Im Bereich der Psychotraumatologie wurde in den letzten Jahren kaum ein anderes Thema so kontrovers diskutiert wie die Einschätzung von traumatischen Erinnerungen und ihre klinische Bewertung. Dies hängt auch damit zusammen, dass gerade Therapeutinnen und Therapeuten eine bedeutsame Rolle sowohl beim Wiedererinnern von Erlebtem als auch bei der Entstehung von Scheinerinnerungen spielen können und der Wahrheitsgehalt von Erinnerungen besonders in gutachterlichen Kontexten von hoher Bedeutung ist. Studienevidenz liegt zu beiden Perspektiven vor. Gedächtnisinhalte sind plastisch und unter bestimmten Umständen induzierbar. Andererseits können auch stark belastende reale Erfahrungen zeitweise nicht zu erinnern sein und später wieder zutage treten. Entscheidend erscheint eine nüchterne und ausgewogene Diskussion der entsprechenden Fragen um klinisch und gutachterlich Tätigen möglichst große Handlungssicherheit in der Praxis zu geben. Das geplante Symposium soll mit vier Vorträgen zu unterschiedlichen Standpunkten in der Debatte um Erinnerungen an traumatische Erfahrungen einen Beitrag leisten. Im ersten Vortrag stellt Olaf Schulte-Herbrüggen, Berlin, die Befunde zu induzierten bzw. wieder aufgetretenen Erinnerungen in den Kontext zentraler Gedächtnistheorien. Im zweiten Vortrag stellt Julia Schellong, Dresden, die Evidenzlage zu wieder aufgetretenen Erinnerungen dar. Im dritten Vortrag diskutiert Alexander Jatzko, Kaiserslautern, den möglichen Einfluss unterschiedlicher interner und externer Faktoren auf die Bildung von Erinnerungen. Im letzten Vortrag leitet Ursula Gast, Mittelangeln, Implikationen für die Arbeit von therapeutisch und gutachterlich Tätigen aus den existierenden Befunden ab.
10:15 Uhr
Wiederaufgetretene Erinnerungen: Evidenz und Einschätzung
J. Schellong (Dresden, DE)
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Autor:in:
J. Schellong (Dresden, DE)
Vermehrtes unwillentliches Auftreten traumatischer Erinnerungen (intrusives Wiedererleben) gilt als wesentliches Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die Konsolidierung genauso wie der Abruf einer Erinnerung hängt von der Emotionalität und vom aktuellen Zustand einer Person ab, ob ein Ereignis als hoch stressreich, traumatisch oder anders emotional erlebt worden ist. Erinnern sich Erwachsene plötzlich wieder oder erst neu an traumatische Erlebnisse, wie z.B. dass sie als Kinder missbraucht wurden, stellt sich rasch die Frage nach dem Stellenwert von Vergessen. Ein wichtiger Aspekt leitliniengerechter traumafokussierter Therapie zielt darauf ab, individuelle Not durch belastende Gedächtnisinhalte und quälend erlebte Erinnerungen zu lindern. Dabei ist gut etablierter therapeutisch-technischer Konsens, dass wiedergewonnene Erinnerungen an ein Trauma echt, falsch oder eine Mischung aus beidem sein können. Der therapeutische Prozess dient nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Minderung des Leidensdruckes. In Gerichtsverfahren oder hochstrittigen Beziehungen können die Anforderungen ganz andere sein. Der Beitrag bringt eine Zusammenfassung zu der aktuellen Forschungslage zu Wiedererinnerungen und der Kontroversen darum.
10:59 Uhr
Sind traumatische Erinnerungen immer akkurat?
A. Jatzko (Kaiserslautern, DE)
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A. Jatzko (Kaiserslautern, DE)
Einführung:
Es besteht viel Unsicherheit bei juristischen Auseinandersetzungen genährt durch gutachterliche Stellungnahmen als auch teilweise kontroverse wissenschaftliche Veröffentlichungen, ob traumatische Erinnerungen immer als akkurat anzusehen sind. Vor allem bei Erinnerungen aus der Kindheit, die erst im Erwachsenenalter erinnert werden, reicht das Spektrum des Diskurses von immer falsch bis zu immer richtig. Zusätzlich besteht eine wissenschaftliche teilweise kontroverse Debatte darüber, welche Mechanismen traumatischen Erinnerungen zugrunde liegen und wie diese organisiert sind.
Methode:
Mittels einer Literaturrecherche wird der aktuelle wissenschaftliche Stand ermittelt.
Ergebnisse:
Viele Studien zeigen, dass das Gedächtnis während der Gedächtnisbildung aber auch in Speicherung und Abruf zu jeder Zeit dynamisch ist. Interpretationen können auf jeder dieser Ebenen Erinnerungen verändern. Auch können Erinnerungen suggeriert werden, die nicht stattgefunden haben. Jedoch konnte dies nur für einfache, nicht traumatische Erlebnisse wissenschaftlich gezeigt werden. Es konnte bisher keine wissenschaftliche Methode valide zwischen ganz oder teilweise wahren oder falschen Erinnerungen unterscheiden. Es konnte auch nicht bewiesen werden, dass wiedererlangte Erinnerungen unzuverlässiger sind als andere Erinnerungen. Genauso können auch Betroffene von eigenen Erinnerungen überzeugt sein oder daran zweifeln. Dieser Beitrag versucht den wissenschaftlichen Diskurs darzustellen.
11:21 Uhr
Traumatische Erinnerungen – was Therapeut:innen (nicht) tun sollten
U. Gast (Mittelangeln, DE)
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Autor:in:
U. Gast (Mittelangeln, DE)
Traumatische Erinnerungen - Was Therapeut:innen (nicht) tun sollten”
Hintergrund: Durch die Initiative der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wird hierzulande der Umgang mit traumatischen Erinnerungen in Therapie und Rechtsprechung vermehrt thematisiert. Verunsicherung entsteht insbesondere durch wiedererlangte Erinnerungen und deren Einordnung. Besondere Brisanz hat diese Problematik bei PatientInnen mit komplexer Posttraumatischer Belastungsstörungen oder Dissoziativer Identitätsstörung, zumal die Erkrankungen mit spezifischen Gedächtnis- und Erinnerungsproblemen einhergehen. Dies hat wichtige Implikationen, die hier skizzierte werden sollen.
Methode: Behandlungsempfehlungen und Positionspapiere von Fachgesellschaften (ISTSS ISSTD, DeGPT) werden hinsichtlich des Umganges mit traumatischen Erinnerungen gesichtet und folgende Probleme identifiziert: Vermeiden, Verleugnen sowie übertriebenes Zweifeln einerseits sowie übermäßige Fokussierung auf traumatischen Erinnerungen mit Vernachlässigung von Alltagsthemen wie Selbstfürsorge, Arbeitsfähigkeit und emotionale Stabilität andererseits. Does and Donts werden formuliert und mit klinischen Fallbeispielen unterfüttert. Schlussfolgerung: TraumatherapeutInnen sollten sich mit den Ergebnissen der Gedächtnisforschung vertraut machen. Vermieden werden sollte eine Attribution von Symptomen auf Traumatisierung, eine explizite Suche nach traumatischen Erinnerungen sowie therapeutische Techniken, die reale und fiktive Ebenen vermischen. Wenn dies berücksichtigt wird, stellt die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen einen wesentlichen Faktor dar, um Kontrolle über traumabezogenen Erinnerungen und Gefühle zu erlangen und entsprechend Symptom-Linderung zu erfahren (ISTSS, 2022).
Ursula Gast
Ursula Gast, PD Dr. med. Psychotherapeutische Praxis, Heidelücker Weg 4, Dammholm/Havetoftloit, 24986 Mittelangeln