Bereits zu Anbeginn des Faches übernahm die Psychiatrie eine ordnungspolitische Funktion. Psychisch Kranke mussten gefürchtet und die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden, z. B. durch die Unterbringung in geeignete Einrichtungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Einsicht zu, dass eine Institutionalisierung verhaltensauffälliger Menschen bei dem weitgehenden Fehlen therapeutischer Möglichkeiten sich eher schädlich auf die Betroffenen auswirkt. Die heutige Gesellschaft geht viel sensibler mit Gewalt um. Aber unverändert wird jegliche Form pathologisiert und der institutionelle Zwang dann als Freiheit getarnt. Mit dem Etikett, dass alle Menschen mit störendem und aggressivem Verhalten eine Therapie benötigen, werden mögliche Schuldgefühle in der Justiz, der Politik oder der Öffentlichkeit beruhigt. In der Versorgungsrealität scheinen die Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Respekt der Selbstbestimmung auch bei psychisch Kranken und deren Umsetzung in Landes-PsychKG´s in weiten Kreisen der Gesellschaft noch nicht angekommen zu sein. Wenn psychiatrische Kliniken rein ordnungspolitische Funktionen für Personen mit störendem Verhalten übernehmen sollen, reichen die vorhandenen Ressourcen für die Erfüllung der Pflichtversorgung, Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung jederzeit aufnehmen und behandeln zu können, dann nicht mehr aus. Die gesetzliche Förderung der Individualautonomie hat neben vielen Verbesserungen und einem höheren Schutz der Patientenrechte auch zu einer Schwächung der gesellschaftlichen Fürsorge mit nachteiligen Folgen für die betroffenen Menschen, deren Umfeld und den mit der Versorgung betrauten Professionellen geführt. Im Rahmen des Symposiums sollen mit drei Impulsvorträgen diese Entwicklung, die aktuelle Situation und Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden.
17:15 Uhr
„Psychiatrische Notfälle" in der Präklinik – Erfahrungen aus einer PsychKG-freien Zeit
W. Jordan (Magdeburg, DE)
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Autor:in:
W. Jordan (Magdeburg, DE)
„Psychiatrische Notfälle“ in der Präklinik – Erfahrungen aus einer PsychKG-freien Zeit
Seit Jahren werden Menschen mit aggressivem und/oder deviantem Verhalten verstärkt psychiatrischen Kliniken zugeführt, obwohl nur ein kleiner Teil der Verhaltensauffälligkeiten durch psychische Krankheiten bedingt wird. Wegen des sogenannten Versorgungsauftrages unterliegt die stationäre Psychiatrie der Gefahr, im Sinne einer rein ordnungspolitischen Funktion instrumentalisiert zu werden. Wenn Personen in ein System geschoben werden, wo sie nicht hingehören, reichen die dort vorhandenen, eigentlich ausreichend bemessenen Ressourcen für die Erfüllung der Pflichtversorgung nicht mehr aus. In der Landeshauptstadt Magdeburg ist es zu dieser skizzierten Entwicklung gekommen. So waren die dortigen gesetzlichen Unterbringungen nach PsychKG-LSA über die Jahre 2015 – 2019 rund 3 ½ Mal so hoch wie in einer vergleichbaren Region. Mit der Umsetzung der aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.07.2018 resultierenden Überwachungs- und Sorgfaltspflichten konnte in beiden psychiatrischen Kliniken vor Ort eine rechtskonforme Sicherstellung der psychiatrischen Versorgung nicht mehr gewährleistet werden. Da trotz mehrfacher Appelle an die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger keine Veränderung zu erzielen war, hat mit Einführung des neuen PsychKG-LSA vom 14.10.2020 einer der Träger seine Zustimmung nicht erteilt und sich dementsprechend an dem Vollzug der Unterbringung nach § 16 für ein ½ Jahr nicht beteiligt. Um trotzdem eine ausreichende Patientensicherheit zu gewährleisten, wurde begleitend eine retrospektive Analyse der notfallmäßigen Zuweisungen durch Rettungsdienst, Notärzte und Polizei in beiden psychiatrischen Kliniken über ein Quartal vor und nach dem Ausstieg vorgenommen. Die Auswirkungen auf das Notfallgeschehen und die daraus abzuleitenden Erfordernisse für handelnde Personen im Notfallwesen werden dargestellt und diskutiert.
17:45 Uhr
Was braucht es für Sicherheit auf psychiatrischen Stationen?
L. Mahler (Berlin, DE)
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L. Mahler (Berlin, DE)
Im psychiatrischen Kontext kommt es, analog zum gesellschaftlichen Diskurs, vermehrt zur Debatte über den Umgang mit Gewalt und Aggressionen und zu einem steigenden Bedürfnis nach Sicherheitsmaßnahmen. Obwohl Studien andere Befunde liefern, nimmt die subjektive Wahrnehmung von Gewalt psychiatrischer Pat. gegenüber Mitarbeitenden und anderen Personen zu. Im Zuge dessen werden u.a. Sicherheitsdienste auf psychiatrischen Stationen eingesetzt und der Ruf nach restriktiven psychiatrischen Konzepten wird lauter.
Im Vortrag werden anhand aktueller Studien Risikofaktoren für Gewalteskalationen und Zwangsmaßnahmen analysiert und Hintergründe des zunehmenden Sicherheitsbedürfnisses diskutiert. Es werden Konzepte und Maßnahmen vorgestellt, die Gewalt, Aggressionen und Zwangsmaßnahmen reduzieren können und zu einer größeren Sicherheit im akutpsychiatrischen Bereich beitragen. Dabei wird ein besonderer Fokus auf das subjektive Sicherheitsempfinden von Mitarbeitenden, Patient:innen und Angehörigen gelegt und diskutiert, wie diesem angemessen begegnet werden kann.
18:15 Uhr
„Systemsprenger“ und Nichtpassung des Versorgungssystems – Erkenntnisse aus einem empirischen Forschungsprojekt in Brandenburg
M. Heinze (Rüdersdorf, DE)
D. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
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Autor:innen:
M. Heinze (Rüdersdorf, DE)
D. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
Wie können Hilfen für Patient*innen aussehen, die als sogenannte Systemsprenger in Erscheinung treten? Es geht um eine kleine, aber für die Träger der Eingliederungshilfe sowie die Akteur*innen des psychiatrischen Versorgungssystems herausfordernde Gruppe mit einem erheblichen Hilfebedarf für das Alltagsleben wie auch für psychiatrische Betreuung.
Berichtet wird von einem Forschungsprojekt, welches durch Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V. März bis Dezember 2021 in Kooperation mit der Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Brandenburg durchgeführt und durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz (MSGIV) gefördert wurde.
Als methodischer Zugang wurde zunächst die Perspektive verschiedener Akteur*innen der psychosozialen Versorgung gewählt. In einem zweiten Projektschritt 2022 wurde die Personengruppe der Patient*innen bzw. Nutzer*innen (ehemalige sogenannte Systemsprenger) befragt.
Die Ergebnisse der Studie geben nun Antworten auf die Fragen: Wie arbeiten die Hilfen aus dem sozialen und Versorgungssystem zusammen? Welche Faktoren erleichtern oder erschweren die kooperative und koordinierte Abstimmung zwischen den Versorgungssystemen? Wie gelingt eine Passung? Die Interviews mit Betroffenen betonen die biografischen Einflüsse und individuellen Probleme. Aus ihren Erfahrungen wird deutlich, dass Patienten- und Teilhabeorientierung oft nicht erlebt wurden. Der Wunsch nach psychiatrischer und therapeutischer Hilfe steht in einem Spannungsfeld mit der Befürchtung, dass die eigene Würde verletzt wird.