Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) berichtete bereits im Jahr 2014 über die fehlende bzw. unzureichende Umsetzung der sektorenübergreifenden Versorgung in Deutschland und speziell von evidenzbasierten ambulanten Versorgungsmodellen für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Sachverständigenräte, Fachgesellschaften, Patient:innen- und Angehörigenorganisationen haben diesbezüglich ebenfalls Empfehlungen für das deutsche Versorgungssystems formuliert, welche aber größtenteils nicht Teil der Regelversorgung sind und wenn, dann gesetzlich wie inhaltlich häufig nicht nach Evidenz implementiert.
Das Symposium informiert in vier Vorträgen über innovative Versorgungsmodelle der sektorenübergreifenden Versorgung, der gestuften, integrierten und koordinierten Versorgung, der stationsäquivalenten Behandlung und der diagnosespezifischen integrierten Versorgung. Drei der vier Vorträge (NPPV, RECOVER, IV-B in RECOVER) berichten dabei erstmals in Deutschland über die Ergebnisse von Studien gefördert durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Im Fokus des Symposiums stehen Menschen mit schweren allgemeinen und anhaltenden psychischen Erkrankungen und hierbei insbesondere die Effektivität und Effizienz der Versorgungsmodelle stationsäquivalente Behandlung, Assertive Community Treatment und Crisis Resolution Team.
Das Symposium informiert in vier Vorträgen ausführlich über die Rationalen zu diesen besonderen Formen der aufsuchenden Behandlung, berichtet über die wissenschaftlichen Ergebnisse sowie die praktischen Erfahrungen aus dieser Arbeit und lädt zur kritischen Diskussion über Hindernisse und Reformbedarfe im deutschen Gesundheitssystem ein.
15:30 Uhr
Strukturen und Ergebnisse des Innovationsfonds-Projekts „Neurologisch-psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung“ (NPPV)
N. Paas (Hamburg, DE)
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N. Paas (Hamburg, DE)
Patienten mit schweren psychischen und neurologischen Erkrankungen sind in akuten Krankheitsphasen häufig mit Versorgungsdefiziten in der Regelversorgung wie unzureichender Koordination einer Behandlung und zu langen Wartezeiten auf Behandlungstermine konfrontiert.
Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) als Konsortialführer und die IVPNetworks GmbH (IVP) als Konsortialpartner haben daher von 2017 bis 2021 gemeinsam mit der AOK Rheinland/Hamburg, dem BKK Landesverband Nordwest und weiteren Unterstützern das Innovationsfondsprojekt „Neurologisch-psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung – kurz: NPPV“ umgesetzt. Das Projekt adressierte diese Defizite in einem gestuften Versorgungsmodell (Stepped Care). Zentrales Element war dabei eine berufsgruppenübergreifende Vernetzung der am Projekt beteiligten Ärzte und Psychotherapeuten. Abgestimmte Behandlungsprozesse verbesserten die Versorgungseffizienz im Interesse der Patienten.
Die Evaluation erfolgte durch IGES und das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi).
Insgesamt wurden 14.148 Fälle in die neue Versorgungsform eingeschlossen und 396 Fachärzte sowie 284 Psychotherapeuten vertraglich eingebunden.
Die Umsetzung des Projekts mit Managementleistungen und IT-gestützten Behandlungspfaden war ein entscheidender Faktor für die erfolgreiche Etablierung der neuen Versorgungsform innerhalb der Netzwerke.
Die Versorger sehen alle evaluierten Dimensionen der Versorgungsqualität als verbessert an und zeigen hohe Akzeptanzwerte für das Projekt. Die guten Umsetzungserfahrungen bestätigen grundsätzlich ein großes Potential der Versorgungsform für eine Übertragung der Ergebnisse auf andere Regionen und Indikationsgebiete, u.a. wird das Projekt als eine Blaupause für die Umsetzung der neuen KSVPsych-Richtlinie des G-BA angesehen.
15:52 Uhr
Teilstrukturen und Ergebnisse des Innovationsfonds-Projekts „gestufte, integrierte und koordinierte Versorgung für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen“ (RECOVER)
D. Lüdecke (Hamburg, DE)
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D. Lüdecke (Hamburg, DE)
Jährlich sind etwa 2% (ca. 1,5 Millionen) der Bevölkerung von anhaltend schwerer psychischer Erkrankung mit komplexem Versorgungsbedarf betroffen (Stufe 4 in RECOVER, z.B. Schizophrenie). Aus Sicht der WHO stellt dies „eine der am stärksten beeinträchtigenden Gesundheitszustände überhaupt“ dar.
Im RECOVER-Projekt wurde weltweit erstmals eine gestufte, integrierte und koordinierte Versorgung diagnoseübergreifend in einem Versorgungssektor implementiert, evidenzbasiert-wirksame Behandlungsmodelle angewendet und wissenschaftlich in einer randomisiert-kontrollierten Studie geprüft.
Patient:innen der Stufe 4 wurden mit Assertive Community Treatment (ACT) behandelt, von der WHO als zu etablierende „notwendige Alternative zur stationären Versorgung“ erklärt. ACT im Rahmen von RECOVER ist eine teambasierte Intervention mit den Kernelementen: hochfrequente ambulante Behandlung, 24/7 Krisenintervention, Hausbesuche und Psychotherapie.
Patient:innen der Stufe 4 (N = 160) verursachten in den 6 Monaten vor Einschluss hohe direkte und indirekte Kosten von 32.216€. Insbesondere Psychosen waren mit hohen Kosten von 35.700€ in 6 Monaten verbunden. Direkte Kosten beliefen sich auf 10.482€, hiervon waren über 90% Krankenhauskosten.
Die 1-Jahresbehandlung in RECOVER war im Vergleich zur Regelversorgung mit hochsignifikant niedrigeren Gesamtkosten verbunden (20.677€ vs. 28.621€, p < .001). Vor allem die von der GKV getragenen Kosten (-34%; 15.608€ vs. 23.396€, p < .001) und hier v.a. die Krankenhauskosten (-54%: 6.379€ vs. 13.803€, p < .001) waren hochsignifikant niedriger. Bei allen Patient:innen zeigte die Interventionsgruppe größere Verbesserungen der Recovery (Maß aus Symptomen, Alltagsfunktionen und Lebensqualität; ohne Dropouts: p < .05; mit Dropouts (EM-Imputation): p < .05).
Die Ergebnisse belegen, dass die Implementierung evidenzbasierter, integrierter und koordinierter Versorgung insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen effektiver und effizienter ist.
16:14 Uhr
Strukturen und Ergebnisse des Berliner Verbunds zur stationsäquivalenten Behandlung im häuslichen Umfeld (StäB)
A. Bechdolf (Berlin, DE)
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A. Bechdolf (Berlin, DE)
Der Beitrag gibt eine Übersicht über das Konzept und die aktuellen Evaluierung von Stationsäquivalenter Behandlung (StäB) in Deutschland. Hier werden sowohl monozentrische quantitative Studien als auch die vom Innovationsfond geförderte multizentrische mixed-model Aktiv-Studie berücksichtigt.
16:36 Uhr
Strukturen und Ergebnisse der integrierten Versorgung von Menschen mit schweren emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen (IV-B)
A. Schindler (Hamburg, DE)
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A. Schindler (Hamburg, DE)
Mit dem Hamburger Modell der Integrierten Versorgung – Borderline (IV-B) nach § 140 SGB wurde ein DBT-basiertes, multimodales, langfristig angelegtes Behandlungskonzept für Patient:innen mit schwerer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) entwickelt. Vordringliche Ziele sind die Verbesserung der Selbstregulation und der Abbau selbstschädigenden Verhaltens der Patient:innen sowie die Reduktion stationärer Kriseninterventionen. Zentrales Element dieses Konzeptes ist ein ambulantes, interdisziplinäres IV-Team, das in einem Krankenhaus mit regionalem Versorgungsauftrag arbeitet und dessen Strukturen nutzt. Strukturell ähnelt dieses pauschal vergütete Konzept der bereits erfolgreich evaluierten IV-Psychose nach dem Hamburger Modell. Inhaltlich ist es aber störungsspezifisch konsequent auf BPS-Patient:innen zugeschnitten.
Vorgestellt wird der Ein-Jahres-Verlauf der umfassenden prospektiven Evaluation anhand von Psycho-pathologie, Lebensqualität, Funktionsniveau und klinischer Inanspruchnahme der IV-B-Patient:innen und einer nach Schweregrad, Alter und Geschlecht parallelisierten Kontrollgruppe .
Die IV-Patient:innen bilden bei Aufnahme eine schwer kranke, junge, überwiegend weibliche, psychisch und somatisch multimorbide Stichprobe mit niedrigem Funktionsniveau, hoher Autodestruktivität und langen stationären Liegezeiten. Die Verlaufsdaten zeigen eine deutliche Reduktion der BPS-Symptomatik, insbesondere der Selbstverletzung und Suizidalität, eine moderate Verbesserung des Funktionsniveaus und eine starke Reduktion der stationären Krankenhaustage.
Das Modell scheint strukturell in der Lage zu sein, schwer kranke BPS-Patient:innen weitestgehend ambulant erfolgreich zu behandeln. Es setzt damit die Forderung der S2-Leitlinien nach Integrierter Versorgung um, hat potentiell eine große Reichweite und könnte dazu beitragen, die Fragmentierung der Behandlungsangebote für BPS-Patient:innen zu überwinden.