Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist im Jahr 2022 bundesweit in die entscheidende Phase getreten. Betreuungs- und Versorgungskonzepte sowie Organisationsstrukturen der Einrichtungen müssen neu bedacht werden, Leistungsvereinbarungen mit den Kostenträgern neu verhandelt und in Vergütungsverhandlungen umgesetzt werden. Die Versorgungslandschaft außerhalb der Krankenhäuser, insbesondere für die schwer und chronisch psychisch kranken Menschen, ist in einer deutlichen Veränderung begriffen. Das BTHG bietet dabei eine Reihe von Chancen, die Versorgung zu verbessern und Konzepte umzusetzen, die fachlich schon lange entwickelt wurden, bisher aber an Kostenträgern und Verwaltungsvorschriften gescheitert sind. Der klinische Bereich ist davon zwar nicht direkt in seinen Strukturen betroffen, indirekt werden sich aber deutliche Veränderungen ergeben, denn die Zuweisungspraxis, die Möglichkeit der Übernahme aus stationärer oder teilstationärer Behandlung, die Art der Zusammenarbeit mit den Institutsambulanzen und insbesondere die Versorgung der schwer und chronisch kranken PatientInnen mit hohem Hilfebedarf kann und muss neu miteinander abgestimmt werden. In diesem Prozess besteht eine große Chance, die Versorgung dieser PatientInnen personenzentriert und bedarfsgerecht zu organisieren und auszugestalten. Hierzu sind aber alle beteiligten Partner notwendig.
Im Symposion sollen diese neue Möglichkeiten ausgelotet und an praktischen Umsetzungsbeispielen in Modellregionen in Deutschland exemplarisch dargestellt werden. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, eine intensive Diskussion zu seiner Umsetzung wird uns auch die nächsten Jahre noch begleiten. Das Symposion soll hierzu Anregung und Hilfeleistung für die vor Ort Verantwortlichen bieten.
15:30 Uhr
Innovative Aspekte des BTHG in der Versorgung psychisch Kranker
R. Borbé (Ravensburg, DE)
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R. Borbé (Ravensburg, DE)
Die Therapie und psychosoziale Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen hat sich in den letzten Jahren weiter zu individuellen, personenzentrierten Angeboten hin entwickelt. Das Bundesteilhabegesetz hat hier weitere Impulse gesetzt, die nun einer Umsetzung in Kliniken und Gemeindepsychiatrie bedürfen.
Die individuelle Versorgungsplanung, auch in der Klinik, muss bei Bedarf auf alle wichtigen Teilhabebereiche erweitert werden. Dazu ist eine ICF (International Classification of Functioning)-basierte Diagnostik und eine enge Zusammenarbeit mit Kliniksozialdienst und Fallmanagement der Leistungsträger notwendig.
Die Betroffenen müssen von Beginn der Planung an einbezogen werden, systemisches Arbeiten wird dadurch ebenso gestärkt wie der Einbezug von Peers sowohl im ambulanten wie stationären Setting, weil dadurch individuelle Wünsche häufig besser heraus gearbeitet werden können.
Über Assistenzleistungen, die durch das BTHG nun auch sozial- und leistungsrechtlich etabliert wurden, können viele Teilhabeprobleme und –wünsche realisiert werden, deren Umsetzung bisher starre Leistungskorridore entgegenstanden. Dies kann wiederum zu einer höheren Zufriedenheit und Abnahme subjektiv empfundener Belastung bei Betroffenen führen und im präventiven Sinne die Häufigkeit von Krisen und konsekutiven stationären Interventionen verringern.
Praxisbeispiele sollen die genannten Möglichkeiten verdeutlichen und die Notwendigkeit einer engeren Kooperation im psychiatrischen Hilfesystem unterstreichen, damit das BTHG den Betroffenen wirklich zu Gute kommen kann.
15:52 Uhr
Notwendige Veränderungsprozesse aus der Sicht der außerklinischen Versorgung
N. Greve (Köln, DE)
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N. Greve (Köln, DE)
Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den Stand der Umsetzung des BTHG in der regionalen gemeindepsychiatrischen Versorgungspraxis. Es folgt eine Bewertung aus der Sicht der Klienten: Welche Entwicklungen kommen ihnen bereits jetzt zugute, welche positiven Absichten des Gesetzgebers könnten verpuffen, welche Risiken sind absehbar?
Im zweiten Teil geht es um die Zusammenarbeit zwischen Kliniken und außerklinischen Leistungserbringern des SGB IX. Das gemeinsame Ziel einer "integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplanung", das eine Expertenkommission bereits 1988 formulierte, bedarf weiterer Schritte seitens der Gesetzgebung, der Kostenträger und der Leistungserbringer, um insbesondere die getrennten Welten der Sozialgesetzbücher V und IX zusammenzuführen
16:14 Uhr
Wissenschaftliche Basis von Veränderungsprozessen im Kontext des BTHG
I. Steinhart (Dortmund , DE)
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I. Steinhart (Dortmund , DE)
Die aktuelle Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung von Teilhabe und Selbstbestimmung – kurz BTHG genannt – stockt in der Umsetzung in den Bundesländern und verfolgt (noch) nicht konsequent die Zielrichtung der UN BRK, die Person steht noch nicht im Mittelpunkt. Die Diskussionen verfangen sich eher in Versuchen, die Kosten konstant zu halten bzw. eine Budget neutrale Systemumstellung zu erreichen(Leistungsträger) oder die bestehenden Angebotsstrukturen möglichst wenig zu verändern(Leistungsanbieter). Zu kurz kommen die in der Gesetzgebung angelegten Chancen einer Umgestaltung der Gemeindepsychiatrie hin zu einer Personenorientierten Assistenz- und Dienstleistungslandschaft in den Sozialräumen der Menschen mit dem primären Ziel, Teilhabe und Selbstbestimmung zu stärken. Ein Grund dafür ist, dass einerseits keine gesetzgeberisch verankerte gemeinsame Teilhabekonferenz unter Einbeziehung der SGB´s V und IX existiert und dass die (Neu)Ausrichtung der Assistenz- und Behandlungsleistungen sich nicht wie üblich an der Evidenz der Wissenschaft und der Erfahrungsevidenz an vielen Orten in Deutschland orientiert. Die Nutzung von Modellen zur Ausgestaltung der Versorgungsstrukturen, die z.B. dieses Erfahrungswissen in den Mittelpunkt stellen, können dazu beitragen, einer sehr Interessen geleiteten Neugestaltung der Angebotslandschaft durch Anbieter wie Leistungsträger vorzubeugen und den Menschen tatsächlich in den Mittelpunkt zu stellen. Dies soll am Beispiel des Funktionalen Basismodells der Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen illustriert werden.
16:36 Uhr
Chancen der patientenzentrierten Behandlung und Versorgung am Beispiel der Raumschaft Reutlingen
G. Längle (Zwiefalten, DE)
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G. Längle (Zwiefalten, DE)
Der Landkreis Reutlingen verbindet das südwestdeutsche Ballungszentrum mittlerer Neckarraum und die oberschwäbische Region, beinhaltet dabei die Großstadt Reutlingen und weite ländliche Bereiche. Die sehr unterschiedlichen Raumschaften innerhalb des Landkreises erfordern eine flexible Struktur der akutpsychiatrischen und der gemeindepsychiatrischen Versorgung, mit jeweils maßgeschneiderten Angeboten in der jeweiligen Region. Insbesondere die gemeindenahe Versorgung in dünn besiedelten und strukturschwachen Regionen stellt eine Herausforderung dar.
Die klinische Versorgung (stationär, teilstationär, ambulant und (seit 2018) stationsäquivalent) liegt in Verantwortung der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Reutlingen und deren Muttergesellschaft, dem ZfP Südwürttemberg. Die gemeindepsychiatrischen Angebote für Reutlingen werden im Wesentlichen von der Gesellschaft für Gemeindepsychiatrie Reutlingen (GP.rt)vorgehalten, die gemeindepsychiatrische Versorgung auf der Alb wird stark vom ZfP Südwürttemberg geprägt. Die Unternehmen bilden insgesamt rund 70% der gesamten psychiatrischen Versorgung im Landkreis ab. Versorgungslücken im KV-Bereich werden ebenfalls durch das ZfP Südwürttemberg und die PP.rt ausgeglichen (Facharztpraxis auf der Alb, Substitutionspraxis in Reutlingen, MZEB in Zwiefalten).
Berichtet wird im Beitrag über die institutionellen, strukturellen und konzeptionellen Prozesse, die in dieser engen Verbindung der Versorgungseinrichtungen zu einer erfolgreichen, personenzentrierten Gesamtversorgung über die durch die Sozialgesetzgebung vorgegebenen Sektoren hinweg dienen und eine individuelle Versorgung auch der sehr schwierigen Klient*innen sichern.
Bisherige konzeptionelle Ansätze, Erfahrungen und Problemlagen werden dargestellt und kritisch reflektiert und auf Übertragbarkeit auf andere Versorgungsregionen überprüft. Die Aspekte, die in der aktuellen regionalen Umsetzung des BTHG dabei berücksichtigt werden müssen, werden herausgearbeitet.