Die COVID Pandemie hat zu tiefgreifenden Veränderungen in der stationären psychiatrischen Versorgung geführt. Es kam es zu erheblichen Veränderungen des Inanspruchnahmeverhaltens mit anhaltender Reduktion der Fallzahlen und zu Umstrukturierungen der Therapieangebote, um Hygieneschutzmaßnahmen einhalten zu können. Vor diesem Hintergrund erhalten wir Hinweise auf Verschiebungen im diagnostischen Spektrum zugunsten akuter schwerer Krankheitsfälle, sowie auf eine spürbare Zunahme freiheitseinschränkender Maßnahmen. Andererseits wirkt die Pandemie als Katalysator und Beschleuniger für Entwicklungen wie die Digitalisierung von Arbeitsprozessen und Therapieangeboten und die Flexibilisierung der Behandlung im Rahmen von Modellprojekten.
Im Symposium wird der Bogen zwischen der aktuellen Pandemiesituation und der antizipierten Zeit danach gespannt: Was wird/soll so bleiben und was (und wie) sollte möglichst wieder anders werden? Werden langfristig viel mehr PatientInnen ambulant und virtuell behandelt werden? Und ist das eine gute oder eine schlechte Entwicklung bzw. wo könnte eine Grenze liegen? Im Symposium werden aktuelle Erfahrungen und Daten aus Versorgung und Versorgungsforschung präsentiert und die Implikationen diskutiert.
J. Zielasek (Köln) präsentiert Analysen der Routinedaten eines großen psychiatrischen Klinikverbunds im Rheinland zu der Entwicklung der Inanspruchnahme stationärer Behandlungsleistungen seit Beginn der Pandemie. Dabei werden Gesamtfallzahlen sowie Fallzahlen für verschiedene Diagnosegruppen präsentiert. T. Steinert (Ravensburg) präsentiert Routinedaten aus Krankenhäusern in Baden-Württemberg sowie qualitative Studienergebnisse zu der Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen in der Pandemie. K. Schnell (Göttingen) skizziert die Verbreitung von Videosprechstunden und anderen Online-Therapieformaten und S. Claus (Klingenmünster) schildert die Erfahrungen mit einem großen sektorübergreifenden Versorgungsmodell nach §64b in der Pandemie.
08:30 Uhr
Entwicklung der Inanspruchnahme stationärer psychiatrischer Behandlungsleistungen seit Beginn der Pandemie – wohin geht die (weitere) Entwicklung?
J. Zielasek (Köln, DE)
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Autor:innen:
J. Zielasek (Köln, DE)
T. Blumenröder (Köln, DE)
I. Lehmann (Köln, DE)
A. Staninska (Köln, DE)
J. Vrinssen (Köln, DE)
E. Gouzoulis-Mayfrank (Köln, DE)
Hintergrund
Im Rahmen der COVID-Pandemie kam es zu tiefgreifenden Veränderungen der stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Im Vortrag sollen die Veränderungen der Inanspruchnahme der teil- und vollstationären Versorgung im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkliniken des Landschaftsverbands Rheinland im Verlauf der Pandemie bis Sommer 2022 dargestellt werden.
Methodik
Versorgungsepidemiologische Längsschnittuntersuchung auf der Grundlage von Vergleichen der Inanspruchnahme vor und während der COVID-Pandemie. Darüberhinaus Analysen des Diagnosespektrums, der Behandlungsergebnisse und von Zwangsmaßnahmen im Zeitverlauf. Subgruppenanalyse der Gruppe der von einer COVID-Infektion betroffenen stationär psychiatrisch behandelten Patient*innen.
Ergebnisse
Die Fallzahlen gingen im Laufe der COVID-Pandemie deutlich zurück und es trat keine dauerhafte Rückkehr zum Ausgangszustand ein. Die Veränderungen betrafen unterschiedliche psychische Erkrankungen in unterschiedlichem Ausmaß, wobei einige Erkrankungsgruppen wie die akuten psychotischen Erkrankungen sogar leicht zunahmen. Es zeigten sich Zunahmen von Zwangsmaßnahmen, aber keine Hinweise für ein schlechteres Behandlungsergebnis im Vergleich zur Prä-COVID-Ära. Unter den von einer COVID-Infektion Betroffenen fanden sich vor allem Frauen und Patient*innen im höheren Lebensalter.
Zusammenfassung
Die COVID-Pandemie führte zu einem überdauernden Rückgang der stationären Fallzahlen und zu Veränderungen des diagnostischen Spektrums, initial am ehesten aufgrund von pandemiebedingten Aufnahmebeschränkungen, die auch in den Zwischenphasen akuter COVID-Wellen nicht komplett zurückgenommen wurden. Ein Nachholbedarf an Aufnahmen in den Zwischenphasen war nicht festzustellen. Akute und schwere psychische Krankheitsbilder traten in der COVID-Pandemie häufiger auf, was möglicherweise auf vermehrte psychosoziale Belastungen der Betroffenen während der Pandemie hindeutet.
08:52 Uhr
Patientenautonomie in und nach der Pandemie – (wie) kann es uns gelingen, die Uhr zurückzudrehen?
T. Steinert (Ravensburg, DE)
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Autor:in:
T. Steinert (Ravensburg, DE)
Die Pandemie hat die Arbeitsbedingungen in der stationären psychiatrischen Versorgung massiv verschlechtert. Verschiedene ungünstige Entwicklungen haben sich gegenseitig verstärkt. Generell erfolgte eine Verschiebung der Prioritäten von der Vermeidung von Zwang zur Kontrolle des Infektionsgeschehens – mit Schließung vormals offener Stationen, Kontrolle oder Ausschluss von Besucher:innen, Einschränkung von Ausgängen und Beurlaubungen, Beschränkungen von Gruppenaktivitäten und Eingriffen in die Grundrechte von Patient:innen und Beschäftigten im Fall von Infektionen oder als Kontaktpersonen. Klinikeinweisungen gingen zurück, Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen stiegen jedoch relativ und, in geringerem Umfang, auch absolut. Die Abwanderung von Fachkräften aller Berufsgruppen und Rekrutierungsprobleme betreffen die Psychiatrie wie das gesamte Gesundheitswesen. Damit geht ein Verlust von Expertise in der steten Gratwanderung zwischen Autonomierechten und Sicherheitsbedürfnissen einher. Stationsschließungen aus Gründen des Fachkräftemangels, getrieben durch die PPP-RL und steigenden Personalbedarf der forensischen Psychiatrie, führen zu einer zunehmenden Konzentration auf die „Pflichtaufgaben“, d.h. die Versorgung untergebrachter Patient:innen. Ein Zurückdrehen der Uhr in die Zeit vor der Pandemie erscheint zunehmend unrealistisch. Erforderlich wird anstelle dessen eine Transformation der Psychiatrie in der Weise sein, dass möglichst viele Patient:innen noch angemessen versorgt werden können. Die Instrumente sind die Stärkung der hausärztlichen psychiatrischen Kompetenzen, Förderung digitaler Behandlungselemente und die Umsetzung der erfolgreichen Modellprojekte mit einer Änderung der Finanzierungsstrukturen, z.B. im Sinne von Regionalbudgets. Nur in einer optimierten bedarfsgerechten sektorenübergreifenden Versorgung werden die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, auch Autonomierechte ethisch angemessen zu wahren.
09:14 Uhr
Weiterentwicklung von Behandlungsangeboten durch Videosprechstunden und andere Online-Therapieformate
K. Schnell (Göttingen, DE)
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Autor:innen:
K. Schnell (Göttingen, DE)
M. Stein (DE)
L. Kolbe (DE)
Im Rahmen der Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie ist die Nutzung von Videokonferenz-Systemen und insbesondere Video-Sprechstunden rasant angestiegen. Neben dem unmittelbar ersichtlichen Nutzen in der Pandemie-Situation bieten solche Systeme auch die Möglichkeit, räumliche Lücken in Versorgungssystemen zu überbrücken und den Zugang zu spezialisierten Behandlungsangeboten zu erleichtern. Allerdings zeigte sich hierbei auch, welche Grenzen die Interaktion über solche Systeme, insbesondere im medizinisch-therapeutischen Bereich hat.
Am Beispiel des aktuellen BMBF-geförderten Projektes MITMed (https://www.interaktive-technologien.de/projekte/mitmed) soll gezeigt werden, wie sich existierende Systeme für Video-Therapie hybrid ergänzen lassen, um Lösungen für solche interaktionellen Probleme zu finden. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei eine neue Methodik der Augmented Reality, die eine verkörperte Interaktion über emotionale Zustände zulässt, und damit an Grundaspekte der therapeutischen Beziehungsgestaltung anknüpft. Zudem wird am Beispiel des Projekts erläutert, wie sich Videotherapiesysteme mit Wearables, Online-Psychotherapieplattformen und Krankenhausinformationssystemen zu einem Ökosystem für die Versorgung psychischer Störungen vernetzen lassen.
Auf der Basis des vorgestellten Konzepts soll diskutiert werden, welche grundsätzlich neuen Möglichkeiten solche Systeme für die Psychiatrie und Psychotherapie bieten.
09:36 Uhr
Sektorübergreifende Versorgungsmodelle in der Pandemie und danach
S. Claus (Klingenmünster, DE)
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Autor:in:
S. Claus (Klingenmünster, DE)
Helfen Modellvorhaben auch in der Pandemie?
Zum 01.01.2020 hat das Pfalzklinikum mit den Kostenträgern ein Modellvorhabenvertrag nach §64b SGB V für Kinder, Jugendliche und Erwachsene abgeschlossen, mit der größten Anzahl an Patienten und dem größten Finanzvolumen in Deutschland. Mehr als 98% der Patienten, die im Pfalzklinikum Hilfe suchen steht somit diese neue Versorgungsform zur Verfügung. Ziele sind der Aufbau aufsuchender Teams in allen Versorgungsregionen, ambulante Krisenversorgung im häuslichen Umfeld sowie der frühzeitige Einbezug der Angehörigen und des sozialen Netzwerks. Nachdem zunächst der Aufbau neuer Behandlungsangebote gut gelungen ist wurde dies durch die Pandemie ab März 2020 erheblich reduziert. Die unklare Infektionslage, der fehlende Infektionsschutz und die Notwendigkeit der Kohortenbildung hat zu großer Verunsicherung und der Rückkehr zu den vertrauten (stationären) Strukturen geführt. Die ersten Veröffentlichungen aus Bergamo haben uns früh darin bestärkt unsere Behandlungsangebote zu dezentralisieren und die aufsuchende Behandlung im Lebensumfeld der Betroffenen zu intensivieren, zumal viele ambulante und gemeindepsychiatrische Angebote gerade für die schwer psychisch Kranken (SMI-Patienten) eingestellt wurden. Hierdurch ist es gelungen die fehlenden stationären Behandlungskapazitäten abzufedern und auch in den Jahren der Pandemie unter herausfordernden Rahmenbedingungen die Patienten unserer Versorgungsregion bedarfsgerecht und lebensfeldorientiert zu behandeln.