Die S3 Leitlinie zur Verhinderung von Zwang gibt Empfehlungen auf der Basis der vorliegenden Evidenz. In vielen Bereichen konnten lediglich Empfehlungen zur „good clinical practice“ gegeben werden. In den letzten Jahren gab es weitere umfangreiche Forschungstätigkeit von verschiedenen Arbeitsgruppen, die eine erhebliche Verbesserung der Evidenz zu vielen Fragestellungen erwarten lässt. In diesem Symposium möchten wir einige dieser Entwicklungen vorstellen.
Beitrag von S. Hirsch:
In Deutschland gibt es ein Register für Zwangsmaßnahmen aller Rechtsgrundlagen bisher nur in Baden-Württemberg (seit 2015). Der Vortrag zeigt beispielhaft wichtige Ergebnisse auf, erläutert aber zugleich auch die Probleme in Bezug auf die sehr häufigen kausalen Fragestellungen.
Beitrag von C. Cole et al.:
Basierend auf aktuellsten Forschungsbefunden werden einzelne Prädiktoren sowie der zeitliche Verlauf des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen in der Akutpsychiatrie herausgearbeitet sowie deren Bedeutung für spezifische Interventionen diskutiert.
Beitrag von A. Oster:
Es ist anzunehmen, dass v.a. Kliniken, die viel mit angespannten Patient:innen arbeiten und häufig mit Eskalationen konfrontiert sind, sich intensiver mit Strategien zur Zwangsvermeidung auseinandersetzen und daher die S3 Leitlinie zur Verhinderung von Zwang und Therapie aggressiven Verhaltens (2018) umfassender implementieren. Ob eine bessere Leitlinienimplementierung auf den Stationen auch mit weniger Zwangsmaßnahmen einhergeht, wurde anhand der Daten aus der PreVCo-Studie ausgewertet.
Beitrag von L. Mahler:
Die strukturierte Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen ist eine Handlungsempfehlung der PreVCo-Studie und erweist sich als eine von den Stationen am häufigsten gewählten Interventionen. Im Vortrag wird die Umsetzung wie auch die wissenschaftlich belegte Wirkung der Nachbesprechung hinsichtlich der Reduktion von PTBS-Symptomen und subjektiv erlebtem Zwang vorgestellt.
15:30 Uhr
Was können wir aus Registerstudien lernen – und was nicht?
S. Hirsch (Biberach, DE)
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Autor:innen:
S. Hirsch (Biberach, DE)
E. Flammer (DE)
T. Steinert (DE)
Registerstudien ermöglichen kostengünstig große Fallzahlen teils über einen langen Zeitraum zu untersuchen. Neben klinischen Registern (z. B. Krebsregister) werden Routinedaten von Krankenhäusern etc. verwendet. Oft werden aggregierte Daten verwendet oder Daten auf Fall-/Patientenebene. In neuerer Zeit sind letztere für KI-Ansätze interessant.
Vorteile von Registerstudien sind eine Reduktion des Selection- und Reporting Bias, was zu einer höheren externen Validität führt und Vorhersagen ermöglicht. Die Verbindung verschiedener Register erlaubt neue Zusammenhänge zu explorieren und Regionen, Länder oder Zeiträume miteinander zu vergleichen. Registerstudien erlauben Vollerhebungen und sind sinnvoll für epidemiologische Studien, zur Überprüfung in Studien gewonnener Ergebnisse oder zur Hypothesengenerierung für weitere interventionelle Studien. Routine-/Registerdaten können mit Daten aus Umfragen und klinischen Studien verknüpft werden und zur Interpretation der Ergebnisse beitragen.
Aufgrund der fehlenden Randomisierung eignen sie sich jedoch nicht zur Untersuchung kausaler Zusammenhänge. Die Daten wurden nicht für die Beantwortung der entsprechenden Fragestellung erzeugt. Die Forschung geht über den ursprünglichen Verwendungszweck der Daten hinaus und stößt daher oft an Grenzen. In manchen Fällen sind Daten nicht öffentlich zugänglich, unübersichtlich oder schwer verständlich. Die Datenqualität, insbesondere die Reliabilität von Routinedaten, ist oft schlecht. Im Gegensatz zu Studiendaten keine unabhängige Gegenprüfung durchgeführt und die Forschenden stehen oft nicht in Kontakt mit den Datenliefernden. Daher können nur grobe Unplausibilitäten als Fehler erkannt werden.
Der Vortrag gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen bei der Forschung mit Routinedaten im Bereich seelische Gesundheit. Beispiele aus dem baden-württembergischen Zwangsmaßnahmenregister werden vorgestellt.
15:52 Uhr
Prädiktoren von Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken und Rettungsstellen
C. Cole (Berlin, DE)
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Autor:in:
C. Cole (Berlin, DE)
In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche wirksame Konzepte zur Reduktion und Vermeidung von Zwangsmaßnahmen in der akutpsychiatrischen Versorgung entwickelt und umgesetzt worden. Bei erfolgreicher Umsetzung zeigt sich zunehmend, dass sich Gewalteskalationen und Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum reduzieren lassen. Studien zeigen, dass bestimmte Personencharakteristiken und spezifische Zeitpunkte im Behandlungsverlauf ein besonders hohes Risiko für Gewalt und Zwang haben. Im Vortrag werden einzelnen Prädiktoren (unter anderen Alter, vorliegen richterlicher Beschlüsse, Vorstellung in Polizeibegleitung und die Kommunikationsfähigkeit der Patienten) sowie der zeitliche Verlauf des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen in der Akutpsychiatrie anhand aktueller Forschungsbefunde herausgearbeitet. Zu Grunde liegen Stichproben (n = 2584 und n = 1556) aus zwei großen psychiatrischer Abteilungen in deutschen Allgemeinkrankenhäusern.
16:14 Uhr
Recovery statt Zwang – die Reduktion von Zwangsmaßnahmen durch Einführung des Weddinger Modells
A. Oster (Berlin, DE)
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Autor:innen:
A. Oster (Berlin, DE)
L. Mahler (Berlin, DE)
Das Weddinger Modell ist ein Recovery-orientiertes Behandlungskonzept, das 2010 in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus entwickelt und eingeführt wurde. Das Weddinger Modell ist ein übergreifendes psychiatrisch-psychotherapeutisches Konzept, das konsequent sozialpsychiatrische Ansätze wie Recovery, Empowerment, Bedürfnisangepasste Therapie und Trialog in die (akut-) psychiatrische, stationäre Praxis integriert. Vorrangige Ziele des Modells sind die Verbesserung der stations- und berufsgruppenübergreifenden Kommunikation, die Optimierung der Behandlungsstrukturen hinsichtlich Individualisierung, Transparenz und Partizipation sowie die Reduktion von Zwangsmaßnahmen.
Bisherige Forschungsergebnisse belegen, dass mit dem Modell nicht nur eine eine Verbesserung der Behandlungszufriedenheit, der Resilienz der Patient:innen sowie der therapeutischen Beziehung erzielt wird, sondern auch eine signifikante Reduktion der Zwangsmaßnahmen und Zwangsmedikation belegt werden kann.
2020 wurde das Weddinger Modell in einer weiteren Berliner Versorgungsklinik - der Psychiatrischen Abteilung der Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk - implementiert. Im Vortrag werden die ersten Ergebnisse der umfassenden Begleitstudie zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen vorgestellt und im Kontext der Herausforderungen des Implementierungsprozesses diskutiert.
16:36 Uhr
Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen: Was wir aus gescheiterten Begegnungen voneinander lernen können
L. Mahler (Berlin, DE)
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Autor:in:
L. Mahler (Berlin, DE)
Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Kontext haben - auch wenn sie Ausnahmefällen das letzte Mittel sind, um Menschen in akuten psychischen Krisen zu schützen - regelmäßig negative Folgen für alle Beteiligten. Die Vermeidung und Reduktion von Zwangsmaßnahmen auf ein absolutes Minimum hat in der modernen psychiatrischen Versorgung deshalb hohe Priorität.
Entscheidend ist darüber hinaus aber auch der sensible und professionelle Umgang mit eben jenen stattfindenden Zwangsmaßnahmen, die trotz aller Bemühungen im Ausnahmefall nicht verhindert werden können. In diesem Kontext erlangt die leitfadengestützte Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen eine zentrale und wichtige Intervention dar, da sie u.a. die negativen Folgen durch die Zwangsmaßnahme reduzieren kann.
In der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang und Gewalt ist die strukturierte Nachbesprechung von Zwang mit dem betroffenen Patienten eine empfohlene Maßnahme und in einigen Bundesländern ist sie bereits gesetzlich vorgeschrieben. In der deutschlandweiten PreVCo-Studie erweist sie sich außerdem als eine von den Stationen am häufigsten gewählten Interventionen.
Im Vortrag wird die Implementierung und praktische Umsetzung einer moderierten, leitfadengestützten Nachbesprechung mit dem betroffenen Patienten und einem beteiligten Mitarbeitenden vorgestellt. Zudem werden die wissenschaftlichen Befunde hinsichtlich der Reduktion von PTBS-Symptomen und subjektiv erlebtem Zwang durch diese Form der Nachbesprechung vorgestellt und deren besondere Relevanz für die psychiatrische Praxis diskutiert.