Psychische Erkrankungen sind eine der Hauptursachen für Berufsunfähigkeit (BU) in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, am häufigsten depressive Störungen; komorbide Depressionen sind ebenfalls häufig. Aber auch andere psychische Erkrankungen (z. B. Angststörungen, somatoforme Störungen) werden von Versicherten als Ursache für Berufsunfähigkeit angeführt.
Entscheidend für die Beurteilung einer möglichen Berufsunfähigkeit ist jedoch nicht die Diagnose selbst, sondern sind die konkreten Funktions- und Leistungseinschränkungen, die für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bestehen.
Bei unzureichender oder widersprüchlicher Informationslage in der Leistungsprüfung wird ein Sachverständigengutachten zur Leistungsentscheidung nötig. Ziel einer solchen Begutachtung ist es, die von Versicherten selbstberichteten Funktions- und Leistungseinschränkungen zu objektivieren und zu beurteilen, inwiefern die geltend gemachten Defizite die Berufsfähigkeit tatsächlich beeinflussen. Dabei muss stets auf die zuletzt tatsächlich ausgeübte berufliche Tätigkeit Bezug genommen werden.
In diesem Symposium wird dargestellt, wie tätigkeitsbezogene Funktionsstörungen und Leistungseinschränkungen bei psychischen Erkrankungen, unabhängig von der diagnostischen Einordnung, objektiviert und quantifiziert werden können.
Im ersten Teil des Symposiums werden Studienergebnisse, die den Einsatz der Mini-ICF-APP zur Fähigkeitsbeurteilung bei psychosomatischen Patient:innen prüfen, vorgestellt. Im zweiten Teil des Symposiums werden Herausforderungen im Zusammenwirken zwischen Leistungsprüfung auf Seiten der privaten Versicherer und ärztlichen Sachverständigen diskutiert. Im dritten Teil wird die Bedeutung der Bedeutung der Beurteilung des Leistungsvermögens in der Berufsunfähigkeit beleuchtet.
Konkrete Beispielfälle aus der Begutachtungspraxis werden zur Veranschaulichung vorgestellt und es wird Raum für konkrete Fragen und Diskussion mit den Referenten geben.
08:30 Uhr
Beurteilung von Fähigkeitseinschränkungen bei Patienten mit psychischen Erkrankungen in der klinischen Standardbeurteilung und mittels strukturierter Beurteilung anhand der Mini-ICF-APP
B. Muschalla (Braunschweig, DE)
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Autor:in:
B. Muschalla (Braunschweig, DE)
Hintergrund: Eine sozialmedizinische Hauptaufgabe von Ärzten und Psychotherapeuten ist die Befundung und Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Patienten. Die Arbeitsfähigkeit lässt sich nicht einfach aus dem Symptomstatus des Patienten ableiten, sondern aus den krankheitsbedingten Leistungseinschränkungen im Abgleich zu den Arbeitsanforderungen. Eine strukturiertes Befundungs- und Beschreibungssystem von Fähigkeitsstörungen wurde international evaluiert und angewendet: das Mini-ICF-APP (Linden et al., 2009; AWMF, 2019).
Unklar war bislang, ob ein freier klinischer Bericht (d.h. die übliche klinische Praxis: klinische Exploration nach klinischen Standards, aber ohne standardisierte Dokumentationsgliederung, stattdessen wird ein Text geschrieben) und eine strukturierte Fähigkeitsbeurteilung dem Gesamturteil über die Arbeitsfähigkeit entsprechen, d.h. der Entscheidung, ob ein Patient "arbeitsfähig" oder "arbeitsunfähig" ist.
Zielsetzungen: In dieser Untersuchung wird zum ersten Mal bewertet, ob die übliche klinische Beurteilung und die zusätzliche strukturierte Kapazitätsbewertung die Entscheidung über die Arbeitsfähigkeit unterstützen.
Methode: 100 ärztliche Berichte von Patienten in einer psychotherapeutischen Klinik wurden anhand einer Checkliste auf psychopathologische Symptome und Fähigkeitsstörungen untersucht. Zusätzlich wurde für alle Patienten eine strukturierte Beurteilung der Fähigkeitsstörungen auf dem Mini-ICF-APP-Rating dokumentiert.
Ergebnisse: Im klinischen Freitextbericht wurden vor allem Ausdauer, Flexibilität und Kontakt zu anderen Personen als beeinträchtigt angegeben. Dies entsprach auch dem strukturierten Mini-ICF-APP-Rating. Allerdings wurden im Mini-ICF-APP auch andere Fähigkeiten als beeinträchtigt angegeben, z. B. das Einhalten von Regeln und Vorschriften, Planung und Strukturierung, Durchsetzungsvermögen und Gruppenintegration. Vergleicht man den klinischen Freitextbericht und das strukturierte Mini-ICF-APP-Rating, so zeigt sich, dass im Mini-ICF-APP-Rating mehr Beeinträchtigungen in allen Fähigkeitsdimensionen angegeben werden.
Schlussfolgerungen: Der Freitextbericht im Arztbericht zeigt die Unterschiede zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Patienten auf und spricht damit für die Validität von Arbeitsfähigkeitsentscheidungen. Eine Optimierung ist jedoch in Bezug auf die Tiefe und Differenzierung der Beschreibung der Fähigkeitsbeeinträchtigung möglich, wenn man sich an die Gliederung des Mini-ICF-APP hält, die 13 psychische Fähigkeitsdimensionen unterscheidet.
09:00 Uhr
Herausforderungen im Zusammenwirken zwischen Leistungsprüfung und ärztlicher Begutachtung
J. Schmidt (Köln, DE)
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Autor:in:
J. Schmidt (Köln, DE)
Psychische Erkrankungen (insbesondere unipolare Depression) sind mit deutlichem Abstand der Hauptleistungsauslöser in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung.
Ist die medizinische Informationslage zum Ende des Leistungsprüfungsprozesses unklar, lückenhaft und widersprüchlich, gibt der Versicherer zur umfassenden Beantwortung der offenen medizinischen Fragen Sachverständigengutachten in Auftrag. Sachverständige Ärzte objektivieren die Funktions- und Leistungseinschränkungen des zu Begutachtenden und beurteilen, inwiefern die festgestellten Defizite die Berufsfähigkeit in dessen zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf in welchem Ausmaß beeinträchtigen.
Auch wenn die finale Entscheidung über den Grad der Berufsunfähigkeit originäre Aufgabe des Leistungsprüfenden auf Versicherungsseite ist, wird den Ausführungen der Sachverständigen in nahezu allen Fällen gefolgt. Den Sachverständigen wächst somit in der Praxis im Entscheidungsprozess eine überragende Rolle zu.
Die sich auf ein Gutachten stützende Leistungsentscheidung hat für beide Vertragsparteien – Versicherte und Versicherer – große Bedeutung. Wird der Anspruch abgelehnt, kommt es in Einzelfällen zu jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen. Wird er anerkannt, ist der Versicherer (und damit die Versichertengemeinschaft) nicht selten jahrzehntelang leistungspflichtig. Im Rahmen des Symposiums wollen wir daher den Blick auf die Schnittstellen im Zusammenwirken zwischen Leistungsprüfung und ärztlicher Begutachtung schärfen und den Austausch zwischen den beteiligten Akteuren fördern. Denn aus der eigenständigen Definition des Berufsunfähigkeitsbegriff ergeben sich besondere Erfordernisse an die Begutachtung (insbesondere im Hinblick auf die Plausibilitätsprüfung), aber auch an die außermedizinische Sachverhaltsermittlung.
Dazu werden konkrete Beispielfälle aus der Begutachtungspraxis zur Veranschaulichung vorgestellt und es wird ausreichend Raum für eine offene Diskussion geben.
09:30 Uhr
Von der Diagnose zur Beurteilung des Leistungsvermögens in der Berufsunfähigkeit
M. Fliegner (Hamburg, DE)
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Autor:in:
M. Fliegner (Hamburg, DE)
Medizinische Begutachtungen werden nur selten zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit durch den Versicherer benötigt. Bei widersprüchlicher Informationslage wird die Heranziehung eines Experten indes unabdingbar. Grundlage eines Gutachtens sind das Aktenstudium und die Untersuchung. Entscheidend für die Beurteilung der Berufs(un)fähigkeit ist dabei nicht die Diagnose selbst, sondern die konkreten Funktions- und Leistungseinschränkungen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit.
Als Determinanten der Leistungsfähigkeit beschreibt die AWMF-Leitlinie, dass Art und Ausmaß psychischer und psychosomatischer Funktionen und Funktionsstörungen beschrieben werden müssen. Dann sind Faktoren der Krankheitsverarbeitung zu bewerten. Schließlich ist für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit zentral, welche Aktivitäten eine Person noch ausübt oder ausüben könnte und wie sie sich in ihrer Umwelt verhält. Das Ergebnis dieser Bewertung muss dann in den Kontext des konkreten beruflichen Anforderungsprofils gesetzt werden, um den Grad der Berufsunfähigkeit zu bestimmen.
Häufig wird vom Sachverständigen verlangt, sich zur Frage der „zumutbaren Willensanstrengung“ zu äußern. Überdies wird gefordert, darzulegen, inwieweit er/sie davon überzeugt ist, dass die geklagten Einschränkungen tatsächlich bestehen und wie er/sie zu dieser Einschätzung gelangt. Die Beurteilung soll transparent und nachvollziehbar dargestellt werden und es ist kriterienorientiert vorzugehen. Bisher nicht systematisiert eingeführt, aber implizit gefordert wird eine Explikation, anhand welcher Gesichtspunkte, das Urteil schließlich „berufsunfähig“/„berufsfähig“ lautet. Es wird vorgeschlagen, eine Parallele zur Differenzialdiagnostik zu ziehen, in welcher Diagnosen gegeneinander abgewogen und erst nach gründlicher Diskussion bestätigt bzw. sachlogisch ausgeschlossen werden.
Im Rahmen des Symposiums sollen Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten anhand von Praxisbeispielen veranschaulicht und im Anschluss diskutiert werden