Odysseus-Verfügungen stellen eine besondere Form einer Patientenverfügung bzw. Behandlungsvereinbarung dar, in der Betroffene im Voraus festlegen können, dass sie in einem späteren Zustand der Einwilligungsunfähigkeit während einer psychischen Krise gegen ihren Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht und ggf. auch behandelt werden wollen. In der rechtlichen und medizinethischen Diskussion wird eine Vielzahl von Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen diskutiert. Dieses Symposium hat zum Ziel, diese Chancen und Risiken aus einer internationalen und interdisziplinären Perspektive zu erörtern.
10:15 Uhr
Odysseus-Verfügungen in den Niederlanden: rechtlicher Rahmen und Ergebnisse einer Interviewstudie zu den Erfahrungen von Betroffenen und Professionellen
M. Scholten (Bochum, DE)
10:59 Uhr
Perspektiven auf Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen in der psychiatrischen Praxis: Ergebnisse einer qualitativen Studie
S. Potthoff (Bochum, DE)
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Autor:in:
S. Potthoff (Bochum, DE)
Odysseus-Verfügungen sind eine besondere Art von psychiatrischer Patientenverfügung, in der Nutzer*innen von psychiatrischen Diensten im Voraus einer unfreiwilligen Krankenhauseinweisung und einer unfreiwilligen Behandlung während zukünftiger psychischer Krisen zustimmen können. Odysseus-Verfügungen haben in Deutschland aktuell jedoch keine rechtliche Grundlage. In diesem Vortrag werden Ergebnisse einer qualitativen Studie zu potenziellen Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen vorgestellt. Die Ergebnisse basieren auf 17 teilstrukturierten Interviews und einer Fokusgruppe mit fünf Teilnehmer*innen. Die Interviews wurden mit Menschen mit bipolarer Störung, Familienmitgliedern von Menschen mit bipolarer Störung und psychiatrisch Professionellen, die mit Menschen mit bipolarer Störung zusammenarbeiten, durchgeführt. An der Fokusgruppe haben Wissenschaftler*innen mit medizinethischer und rechtlicher Expertise teilgenommen.
Sechs Chancen und fünf Risiken wurden identifiziert. Die Chancen waren Förderung der Autonomie und Selbstwirksamkeit der Nutzer*innen, Entlastung von Angehörigen, Frühintervention, Abbau von (wahrgenommenem) Zwang, positive Beeinflussung der therapeutischen Beziehung und Stärkung der Entscheidungssicherheit der Professionellen. Die Risiken waren Feststellungsprobleme bei der Einwilligungsfähig- bzw. unfähigkeit, ungenaue Angaben und Fehlinterpretation, Zunahme von Zwang durch Missbrauch, negative Auswirkung auf die therapeutische Beziehung durch Nichteinhaltung von Odysseus-Verfügungen sowie eingeschränkte therapeutische Flexibilität und weniger Reflexion über die medizinische Entscheidungsfindung.
Insgesamt überwogen die Chancen von Odysseus-Verfügungen ihren Risiken, vorausgesetzt, dass geeignete Kontroll- und Überwachungsmechanismen vorhanden sind, wie die Bereitstellung von angemessener Unterstützung während des Erstellungsprozesses und die ausreichende Vorbereitung der psychiatrischen Praxis auf den Einsatz von Odysseus-Verfügungen.
11:21 Uhr
Sichtweisen von Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Professionellen auf Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen: Ergebnisse einer quantitativen Umfrage unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen
S. Efkemann (Bochum, DE)
M. Faissner (Bochum, DE)
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Autor:innen:
S. Efkemann (Bochum, DE)
M. Faissner (Bochum, DE)
A. Werning (Bochum, DE)
S. Potthoff (Bochum, DE)
M. Scholten (Bochum, DE)
J. Gather (Bochum, DE)
Hintergrund/Fragestellung: Im Rahmen einer vorausgehenden qualitativen Studie konnten verschiedene Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen erarbeitet werden. Das Ziel der in diesem Vortrag vorgestellten Studie war zu erheben, wie Betroffene, Angehörige und psychiatrisch Professionelle diese Chancen und Risiken einschätzen und welchen Stellenwert diese bei der allgemeinen Bewertung von Odysseus-Verfügungen spielen. Darüber hinaus sollte erhoben werden, ob und unter welchen Bedingungen die befragten Personen sich den Abschluss einer Odysseus-Verfügung für sich selbst, ihre Angehörigen oder Patient*innen vorstellen könnten.
Methodik: Die Befragung wurde als Online-Umfrage durchgeführt und fand unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störung statt, welche sich trialogisch zusammensetzt. Die Umfrage setzte sich aus verschiedenen Modulen zu den Themen Chancen, Risiken, Bedingungen und Widerruf von Odysseus-Verfügungen zusammen. Insgesamt nahmen N = 375 Personen an der Umfrage teil (60.3% Betroffene, 28.0% Angehörige und 11.7% Professionelle), was einer Rücklaufquote von 18.75 % entspricht.
Ergebnisse: Zwischen den drei Skalen „Chancen“, „Risiken“ und „Bedingungen“ zeigte sich in allen Gruppen signifikante Unterschiede. Alle Gruppen stimmten den notwendigen Bedingungen signifikant stärker zu als den Chancen und Risiken. Darüber hinaus wurde den Chancen stärker zugestimmt als den Risiken. Unterschiede zwischen den Gruppen zeigten sich vor allem hinsichtlich der Bewertung von Widerrufsmöglichkeiten und dem Vertrauen in das psychiatrische Versorgungssystem. Die Stärke des Vertrauens korrelierte mit der Bewertung der Chancen und Risiken.
Diskussion: Bei der Implementierung von Odysseus-Verfügungen sollten die Rahmenbedingungen mögliche Risiken reduzieren. Zudem ist näher zu untersuchen, wie das Vertrauen von Betroffenen und Angehörigen und somit die Bereitschaft eine solche Vorausverfügung abzuschließen, gesteigert werden kann.