Demnächst wird eine Novellierung des §64 StGB erwartet, die Veröffentlichung eines entsprechenden Referentenentwurfs steht unmittelbar bevor.
in den letzten Jahren hat es einen Anstieg der Patientenzahlen in den forensischen Entziehungskliniken gegeben, bei Patienten und Rechtsanwälten war das Erreichen einer entsprechenden Anordnung beliebt – vermutlich u.a. aufgrund der Entlassungsmöglichkeit zum Halbstrafenzeitpunkt. In der Rechtsprechung kam §64 StGB nach Einführung der „Soll-Vorschrift“ vermehrt zur Anwendung. In den Maßregelvollzugskliniken ergab sich insgesamt die Situation einer Überfüllung und einer Überlastung des für suchtkranke Patienten ausgerichteten Systems durch stark dissoziale und kriminelle Einflüsse.
Auch eine Task-Force der DGPPN hat sich 2021 zum Verfassen eines Positionspapiers veranlasst gesehen.
Wie werden sich die Gesetzesnovellierungen auswirken?
Welche Änderungen und ggf. Interferenzen werden sich durch die ebenfalls anstehenden Aktualisierung der diagnostischen Systematik durch die Einführung von ICD 11 auf Einweisungsgutachten und den Behandlungsalltag ergeben?
Diese Fragen beschäftigen nicht nur Juristen, Gutachter und Maßregelvollzugskliniken, sondern auch Justizvollzugsanstalten.
Im vorliegenden Symposium sollen die gegenwärtige Situation und die künftigen Erwartungen beleuchtet werden aus Sicht der Justiz und der gesetzesnovellierungsvorbereitenden Arbeitsgruppe (Dorothea Gaudernack), des Maßregelvollzugs (Susanne Stübner), der Gefängnismedizin (Gregor Groß) und der kriminologischen Suchttherapie (Michael Schwarz).
15:30 Uhr
§ 64 StGB aus Sicht der Justiz und der gesetzesnovellierungsvorbereitenden Arbeitsgruppe
D. Gaudernack (München, DE)
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Autor:in:
D. Gaudernack (München, DE)
Der zu erwartende Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts, der auch eine Novellierung des § 64 StGB beinhaltet, wird voraussichtlich zum Zeitpunkt des Kongresses Eingang in das förmliche Gesetzgebungsverfahren gefunden haben.
Der Gesetzesentwurf gründet auf den Ergebnissen einer ressortübergreifenden Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB). Er sieht neben verschiedenen präzisierenden Änderungen im Bereich der Anordnungsvoraussetzungen des § 64 StGB vor allem eine Änderung der vollstreckungsrechtlichen Regelungen in § 67 Abs. 2 und 5 StGB, namentlich die Abschaffung des sog. Halbstrafenrabatts vor. Dadurch sollen Fehlanreize verringert, perspektivisch die Unterbringungszahlen gesenkt und damit eine Konzentration der Kapazitäten auf wirklich behandlungsbedürftige Personen erreicht werden.
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Historie der Arbeitsgruppe sowie des Gesetzesentwurfs aus der Perspektive Bayerns als eines der Länder mit den meisten nach § 64 StGB untergebrachten Patientinnen und Patienten. Dabei soll der Fokus des Beitrags auf der Entwicklung der Rechtsprechung zu § 64 StGB und auf den Ergebnissen der Arbeitsgruppe sowie insbesondere den mit einer Novellierung verbundenen Erwartungen an deren Auswirkungen auf die Rechtsprechung und Praxis liegen.
15:52 Uhr
§ 64 StGB aus Sicht der kriminologischen Suchttherapie
M. Schwarz (Ansbach, DE)
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Autor:in:
M. Schwarz (Ansbach, DE)
Die Überfüllung der Maßregelvollzugseinrichtungen und die Änderung der Klientel stellen die behandelnden Stationsteams der Entziehungsanstalten vor besondere Herausforderungen. Mitunter imponieren bei den Patienten schwerwiegende psychiatrische Krankheitsbilder oder aber psychopathisch-dissoziale Persönlichkeitsstrukturen, welche beide eine therapeutische Bearbeitung von Substanzgebrauchsstörungen durchgehend behindern.
Auch erscheint aus klinischer Sicht bei intensiverer Analyse der Zusammenhang zwischen Suchtmittelkonsum und Indexdelinquenz nicht immer zwingend gegeben. Bei einem Teil der untergebrachten Personen scheinen darüber hinaus eher therapieferne Anreize vorgelegen zu haben, die sie im Erkennungsverfahren zum Bemühen um eine Unterbringung veranlasst hatten.
Die Planung und Durchführung von kriminal- und suchttherapeutischen Interventionen ist in diesen Fällen erschwert: Es kann in der zur Verfügung stehenden Zeit der Vollstreckungsfristen keine ausreichende Veränderung individueller kriminogener Faktoren erreicht und ein protektives Entlassumfeld mit der Möglichkeit eines Risikomanagements gestaltet werden.
Auf der anderen Seite kommt es in Einzelfällen auch zu überraschend positiven klinischen Verläufen, und auf eingangs denkbar ungünstige Behandlungs- und Kriminalprognosen folgen weitgehend unkomplizierte Therapieverläufe mit anschließenden Entlassungen zur Bewährung.
Im vorliegenden Vortrag sollen anhand von klinischen Beispielen und Fallvignetten aus dem Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB die genannten Herausforderungen und Überraschungen illustriert und kritisch diskutiert werden.
16:14 Uhr
§ 64 StGB aus Sicht des Maßregelvollzugs
S. Stübner (Ansbach, DE)
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Autor:in:
S. Stübner (Ansbach, DE)
Forensische Entziehungsanstalten haben u.a. mit Überfüllung zu kämpfen. Erleichterungen werden von Novellierungen von §§ 64 und 67 StGB erhofft, welche nach Krankheitsaspekten filtern und die Hürden einer Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt anheben sollen. Die Gesamtsituation scheint dabei komplex; oftmals bestehen Diskrepanzen zwischen den gutachterlichen Einschätzungen, der Rechtsprechung und dem klinischen Verlauf. Art und Um-fang der Auswirkungen der Gesetzesänderungen auf den Maßregelvollzug sind gegenwärtig nicht absehbar, eine Einschätzung wäre jedoch aus therapeutischer und ökonomischer Sicht relevant.
Es erfolgte daher eine retrospektive Aktenanalyse einer Stichprobe von Patienten (N = 71), die gemäß § 64 StGB im Maßregelvollzug Ansbach untergebracht und zwischen 01.07.2021 und 30.06.2022 entlassen worden waren zur Frage, ob nach Novellierung die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB gegeben wären und wie sich die Situation hinsichtlich § 67 StGB darstellen könnte.
Erste Auswertungen zeigten, dass jeweils ein Anteil von 15 Patienten (21%) die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und ein besonderes Sicherungsbedürfnis aufwiesen. Bei 30 Patienten (42%) bestand eine Begleitstrafe von bis zu 36 Monaten. Bei den Patienten mit längeren Begleitstrafen bestand bei lediglich 4 kein Voreintrag in das Bundeszentralregister (begünstigend für eine Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt aus der Haft).
Es ergaben sich somit Hinweise auf eine dissoziale und kriminelle Akzentuierung der Klientel, sowie darauf, dass sich für einen großen Teil der Patienten nach Novellierung die Unterbringung zur Zeitersparnis jenseits einer eigentlichen Therapiemotivation kaum lohnen dürfte.
Diese und weitere im Vortrag auszuführende Ergebnisse legen nahe, dass die Novellierungen zu spürbaren Auswirkungen führen könnten. Bei der weiterführenden Interpretation ist die Komplexität des Systems zu berücksichtigen. Eine Diskussion ist willkommen.
16:36 Uhr
§ 64 StGB aus Sicht des Justizvollzugs
G. Groß (Straubing, DE)
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Autor:in:
G. Groß (Straubing, DE)
Aus den Stichtagsdaten der bundesweiten Erhebung zur stoffgebundenen Suchtproblematik im Justizvollzug ergibt sich für alle Inhaftierten zum 31.03.2021 eine Belastung von 28 % im Sinne einer Substanzabhängigkeit und 15 % im Sinne eines "Substanzmissbrauchs" (n = 44.693). Die Behandlungsangebote für suchtkranke Gefangene sind gering. In den meisten Justizvollzugsanstalten besteht ein Beratungsangebot durch eine externe Suchtberatung, welche allerdings nur in sehr begrenztem Umfang selbst Therapieangebote anbieten kann. Darüber hinaus beschränken sich die Beratungsangebote in erster Linie auf die Vermittlung von Weiterbehandlungsplätzen. Eine bereits getroffene Anordnung einer Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB erweist sich während des Vollzugs der Freiheitsstrafe hilfreich, da zumindest mittelfristig – wenn auch nicht in Haft – die Betroffenen Aussicht auf Behandlung haben. Umgekehrt stellen Abbrüche von Maßregeln oder anderer Therapiemaßnahmen den Vollzug immer wieder vor große Herausforderungen. Die nunmehr anstehende Reform des § 64 StGB wird alleine aufgrund der Verlagerung des Zeitpunks des Beginns der Maßregel voraussichtlich zu einer deutlichen Zunahme von Suchtkranken im Strafvollzug führen. Da suchtkranke Gefangene im Vollzug störungsbedingt oftmals keine Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können, nimmt die Zeit von Strukturlosigkeit zu. Aus Langeweile werden weitere berauschende Substanzen, oftmals außerhalb des ursprünglichen Präferenzspektrums, konsumiert. So kann eine vorbestehende Suchterkrankung in der Haft deutlich an Dynamik gewinnen.