Im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention und der Kritik von Betroffenenbewegungen hat sich das Verständnis von Patient*innen in der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Statt passiv erleidende treten sie zunehmend als involvierte, aktive und wissenstragende Subjekte in den Blick, die qua eigener Erfahrung Behandlungspraxis und Forschung mitgestalten. Dies geschieht nicht nur, um einen besseren Schutz von Persönlichkeitsrechten zu gewährleisten, sondern zielt ebenso auf ein Empowerment von Betroffenen wie auch auf eine Veränderung der psychiatrischen Wissensproduktion.
Dem Begriff der Erfahrung wird somit in der partizipativen Psychiatrie ein transformatives Potenzial zugesprochen, das in einem gewissen Spannungsverhältnis zu etabliertem psychiatrischem Wissen und der entsprechenden Praxis steht. Ziel des Symposiums ist es vor diesem Hintergrund, den Erfahrungsbegriff in seiner Beziehung zu Wissensbildung konzeptionell genauer zu bestimmen und hinsichtlich seiner Implikationen für die Praxis zu beleuchten.
10:15 Uhr
Epistemische Ungerechtigkeit in Psychiatrie und psychiatrischer Forschung
M. Faissner (Bochum, DE)
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Autor:in:
M. Faissner (Bochum, DE)
Wissen zu produzieren, soziale Erfahrungen zu begreifen und diese zu teilen stellt einen zentralen Bestandteil sozialer Interaktion dar. In der Philosophie gibt es ein zunehmendes Verständnis dafür, wie Personen spezifisch in den Aktivitäten als Subjekte des Wissens moralisches Unrecht erfahren können. Beispiele sind, wenn einer Person aufgrund ihrer sozialen Identität systematisch weniger Glaubwürdigkeit zugesprochen wird oder wenn Begriffe und Theorien nicht geeignet sind, um ihre soziale Realität zu beschreiben. Davon können auch insbesondere Personen betroffen sein, die im Rahmen von psychischen Erkrankungen die Welt anders erfahren. Theorien epistemischer Ungerechtigkeit beschäftigen sich damit, wie Personen aufgrund von sozialen Machtverhältnissen in sozialen Praktiken des Wissens Unrecht erfahren können. In diesem Vortrag werden unterschiedliche Formen epistemischer Ungerechtigkeit erläutert (testimoniale Ungerechtigkeit und hermeutische Ungerechtigkeit). Anhand verschiedener Beispiele wird aufgezeigt, welche Relevanz epistemische Ungerechtigkeit in der psychiatrischen Praxis und Forschung hat.
10:45 Uhr
Ohnmachtserfahrung und Meaning-Making – Transformationspotentiale von Erfahrung
F. Schumann (Rüdersdorf, DE)
G. Croci (Rüdersdorf, DE)
A. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
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Autor:innen:
F. Schumann (Rüdersdorf, DE)
G. Croci (Rüdersdorf, DE)
A. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
Biomedizinische Ansätze in den Psy-Disziplinen stehen seit jeher in der Kritik. Gerade in den letzten Jahren wurden dabei Kritiken immer lauter, die bemängeln, dass eine allein biomedizinische Erklärung psychischen Leidens zu einer Vernachlässigung der subjektiven Bedeutsamkeit desselben führe – mit problematischen Konsequenzen für die Theorie, aber auch für die Praxis. In dem Beitrag werden zwei übliche Kritikstrategien rekonstruiert und auf ihr Verständnis einer adäquaten Berücksichtigung von Bedeutsamkeit geprüft: Einerseits eine bereits etwas ältere Kritik aus der Phänomenologie und eine jüngere, die mit dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit operiert.
Obwohl in der phänomenologischen Auseinandersetzung mit Psy-Disziplinen der Subjektivitätsbegriff im Mittelpunkt steht, bleibt das phänomenologische Gegenmodell von psychischem Leiden als Bedeutungsgeschehen ergänzungsbedürftig, da es eine Kluft zwischen subjektiver und intersubjektiv-sozialer Ebene entstehen lässt, die argumentativ nicht eingeholt werden kann. Aus einer anderen Perspektive stellt sich ein ähnliches Problem für Ansätze, die mit dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit arbeiten. Zwar können sie plausibel machen, dass gängige biomedizinische Behandlungsmodelle eine Geringschätzung gegenüber den Mitteilungen der Betroffenen nahelegen und somit zu epistemischer Ungerechtigkeit beitragen. Aber indem sie hauptsächlich auf individuelle Veränderungsstrategien abheben – wie etwa besseres Zuhören oder Ausblenden von Vorurteilen –, vernachlässigen auch sie weitgehend die sozialen Vorbedingungen, die für eine gerechtere Praxis der Verständigung notwendig sind.
Ausgehend von den Fragen, die die beiden Kritiken aufwerfen, und von den Grenzen, die sich ihnen dabei stellen, wird ein alternativer Vorschlag unterbreitet, der unter Rückgriff auf anerkennungstheoretische und dialektische Motive der Psychiatriekritik Meaning-Making als individuelle und soziale Transformation in den Fokus rückt.
11:30 Uhr
Erfahrung – über eine eminente Qualifikation in der Forschung
D. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
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Autor:in:
D. Schmidt (Rüdersdorf, DE)
Das Wort „eminent“ ist ein wenig schillernd. Es ist verwandt mit lat. mōns „Berg“, was eigentlich „Emporragender“ bedeutet. Die exponierte Position auf dem Berg führt zu viel Aufmerksamkeit, aber auch zu einigen Schwierigkeiten. Diese doppelte Implikation umfasst eminent im Sinne von wichtig, essentiell, aber auch im Sinne von besonders, exponiert, allein.
Eine eigene psychiatrische Behandlungserfahrung als Patient:in als Qualifikation zu bezeichnen, mag für viele noch gewöhnungsbedürftiger sein. Jedoch erfordert die Auseinandersetzung mit eigenem psychischen Krisenerleben viel Lebenszeit und -kraft sowie viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit im psychosozialen Engagement. Sie verbraucht dabei ebenso viel Energie wie eine wissenschaftliche Qualifikation.
Dazu kommt die Auseinandersetzung mit der als nicht hilfreich oder sogar störend empfundenen Behandlung, die neue Störungen gebären kann. Sie erfordert Mut, Hartnäckigkeit und den zum Teil als „krank“ etikettierten Eigensinn.
Sich diesen Herausforderungen gestellt zu haben, ist selten die Voraussetzung, einen Job zu bekommen, sondern eher die Ursache, einen zu verlieren. Somit ist es nicht nur für mich persönlich begrüßenswert, wenn partizipativ forschen nicht bedeutet, dass man als Erfahrener auch dabei sein darf, sondern auf allen Ebenen gleichberechtigtes Mitglied eines Teams ist.
Aber inwiefern ist Forschen mit eigenem Erfahrungshintergrund anders?
Es bedeutet nicht, seine individuelle Erfahrung zu verabsolutieren, sondern von anderen Erfahrenen zu lernen. Es bedeutet, eine Verbindung zum kollektiven Wissen aufzubauen, das sich aus unterschiedlichen Individualperspektiven zusammensetzt. Diese Forschung ist positioniert, sie ist parteiisch und greift damit den Nimbus wissenschaftlicher Objektivität an. Sie ist dadurch nicht nur Freiheitsraum für Betroffene, sondern auch für andere Forscher:innen.