„Einsam werden bedeutet Verbitterung oder Vertiefung“ – Albert Schweitzer hat die zwei Seiten des emotionalen Erlebens von Einsamkeit auf den Punkt gebracht. Einsamkeit kann sowohl zu einem tiefen Leiden angesichts der Vereinzelung, sozialen Isolation und des Gefühls des Unverstandenseins führen, ist darüberhinausgehend aber auch eine Quelle vertiefter Selbsterkenntnis, von Resilienz, welche für unsere seelische Gesundheit wichtig erscheint.
Dieses vom Referat für Religiosität und Spiritualität organisierte Symposium möchte sowohl Risikofaktoren als auch Schutzfaktoren dieser emotionalen Erfahrung aufzeigen. Anthropologische (G. Stotz-Ingenlath) und religiös-spirituelle Traditionen (M. Utsch) heben das Erleben von Einsamkeit vorwiegend als Schutzfaktoren hervor. Die alltäglichen Erfahrungen in der – den traumatherapeutischen, ethnologischen, Glaubens- und ideologischen Hintergrund berücksichtigenden (P. Kaiser) wie auch den trialogischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen (I. Ohls) – Behandlungspraxis betrachten Krisenzeiten als Risikofaktoren für Einsamkeitserleben.
Die Coronakrise sowie das Wissen um Krieg in der Nachbarschaft führen bei vielen Menschen zu einer intensiven Erfahrung von Einsamkeit, die deutlich über das Maß einer sozialen Isolation hinausgeht. Diese existentielle Erfahrung prägt dabei nicht nur die aktuelle Arbeit im Gesundheitswesen, sie ist zugleich Teil einer langen Menschheitsgeschichte.
Die extern von Regierungen in der Notlage erzwungene Einsamkeit als urplötzliche Vollbremsung einer gesamten Weltgemeinschaft und einzelner Wirtschaftssysteme hat den einzelnen Menschen vor starke Herausforderungen gestellt – verbunden mit der von außen gesetzten Notwendigkeit, die bisherige Art zu leben und den Alltag zu gestalten, neu zu erschaffen. Daher wurden kreative Bewältigungsstrategien zum Umgang mit dieser schwierigen Emotion intensiv gesucht und nur zum Teil individuell gefunden. Ob diese auf lange Sicht den einzelnen Menschen tragen werden, wird Gegenstand weiterer Forschung sein. Das Bedürfnis nach Bearbeitung dieser erlittenen Verletzungen und der Ruf nach individuellen Ressourcen und Resilienzfaktoren, welche für die eigene kulturelle Tradition stimmig sind, erscheinen in diesen Tagen gesellschaftlich immer wieder in den Medien und psychotherapeutischen Praxen als vordringliche Bewältigungsaufgabe. Auf welche Traditionen hier zurückgegriffen werden kann, möchte dieses Symposium aufzeigen.
08:30 Uhr
Anthropologische Aspekte der Einsamkeit
G. Stotz-Ingenlath (Berlin, DE)
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Autor:in:
G. Stotz-Ingenlath (Berlin, DE)
Einsamkeit ist eine leidvolle menschliche Grund- und Grenzerfahrung, die nicht als krank oder gesund bezeichnet werden sollte; sie kann allerdings krank machen und Folge von Krankheit sein. Dieser Doppelaspekt des „Stachels“ Einsamkeit, der schmerzen und anstacheln, der auf das Selbst zurückwerfen und doch zu Selbsterkenntnis und einer anderen Dimension von Gemeinsamkeit führen kann, soll anthropologisch beleuchtet werden. Die dunkle Seite der erlittenen Einsamkeit als existenziellem Seelenschmerz und als Begleitphänomen von psychischer Krankheit und Behinderung soll ebenso dargestellt werden wie die helle Seite als selbstgewählter Seinsform, die Kreativität und spirituelle Verbundenheit ermöglicht. Der rechte Umgang mit der je eigenen Einsamkeit und eine Schulung der Einsamkeitsfähigkeit ist für den Menschen als Sozialwesen eine Lebensaufgabe.
08:52 Uhr
Trialogische Erfahrungen in Krisenzeiten
I. Ohls (Hamburg, DE)
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I. Ohls (Hamburg, DE)
Das Erleben von Einsamkeit ist ein störungsübergreifendes Thema und inhaltlicher Schwerpunkt vieler psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlungen. Das Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und die Kommunen fördern ein Kompetenznetz Einsamkeit. Angesichts der andauernden Coronapandemie, des Krieges auf europäischem Boden, des allgemeinen Krisengefühls, welches von der Gesamtgesellschaft über die Arbeitswelt bis ins Privatleben reicht, der möglichen Erinnerung an traumatisierende biographische Erfahrungen kommt bei vielen Ratsuchenden gerade diese Erfahrung zu neuer Lebendigkeit mit Auswirkungen auf den Behandlungsprozess. Neben dem emotionalen Charakter hat das Erleben von Einsamkeit einen ausgeprägten kognitiven Anteil, einhergehend mit Verletzungen des Selbstwerts, geringer Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge. Diese systemischen Aspekte sind eine alltägliche Herausforderung für die therapeutische Arbeit. Einsamkeit kann nicht nur Folge von Erkrankungen sein, sondern auch diese entstehen lassen oder aufrechterhaltend beeinflussen. Dazu gehören die soziale und emotionale Einsamkeit in belastenden Lebensverhältnissen, der fehlende Verbindungsaufbau zu Mitmenschen oder Zurückweisungen in verschiedenen Bezügen. Daher wundert es nicht, dass die Einsamkeit auch ein Thema der Menschheitsgeschichte ist, über das Philosophen und Schriftsteller seit Jahrhunderten schreiben, über das viele Werke der bildenden, darstellenden und musischen Künste vielfach Zeugnis ablegen. Diese Werke stellen Ressourcen auch für die therapeutische Arbeit dar. Welche Impulse aus dem trialogischen Diskurs zwischen Natur-, Geisteswissenschaften und den Künsten für die Arbeit mit Betroffenen, Angehörigen und Behandelnden für die psychiat-risch-psychotherapeutische Arbeit gewonnen werden können, möchte dieser Vortrag an-satzweise aufzeigen.
09:14 Uhr
Einsamkeitserleben und religiös-spirituelle Bewältigungsversuche
M. Utsch (Berlin, DE)
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Autor:in:
M. Utsch (Berlin, DE)
Um die existentielle Grunderfahrung des Alleinseins und die Angst des Getrenntseins zu überwinden, hat sich die Sehnsucht nach Nähe, Gemeinschaft bis hin zur Verbundenheit mit dem All-Einen entwickelt. Re-ligare als Rückbindung zum Ursprung und Spiritualität als Verbundenheit mit einem größeren Ganzen haben in unterschiedlichen Kulturen Übungen und Rituale hervorgebracht, um nicht allein bleiben zu müssen. Es werden einige säkulare, spirituelle und religiöse Meditationspraktiken beschrieben, die Verbundenheit erlebbar machen und damit die spirituelle Dimension als menschliche Möglichkeit zugänglich machen.
09:36 Uhr
Integrative psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten mit unterschiedlichen Traditionen
P. Kaiser (Wabern, CH)