Die Übergänge zwischen der stationären psychiatrischen Behandlung und gemeindepsychiatrischen Wohnformen, die den Bedürfnissen der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen gerecht werden, sind verbesserungsbedürftig. Es ist an der Tagesordnung, dass Patienten, deren psychiatrische Behandlung abgeschlossen ist, nicht aus der Klinik entlassen werden können, weil passende Wohn- und Betreuungsformen in der Region nicht zur Verfügung stehen. Eine gemeindenahe Betreuung von Menschen mit komplexen Hilfebedarfen ist in vielen Regionen Deutschlands nicht ausreichend etabliert. Neben strukturellen und auch konzeptionellen Versorgungsdefiziten fehlen auch häufig die dafür notwendigen Ressourcen. Folge ist, dass Patienten in andere Bundesländer fernab ihrer sozialen Bezüge und teilweise gegen ihren Willen vermittelt werden. Zudem gelingt eine bedarfsgerechte Vermittlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen aus geschlossenen Wohnheimen in weniger restriktive Wohneinrichtungen häufig nicht oder sehr verzögert. Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und der im Bundesteilhabegesetz niedergelegte Anspruch, psychisch kranken Menschen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes zu gewährleisten, finden nicht ausreichend Berücksichtigung. Alle Akteure der psychosozialen Versorgung sind gehalten bedarfsgerechte Strukturen vorzuhalten und die Übergänge in passende Betreuungsformen zeitnah zu gewährleisten. Die Gremien der regionalen Planung, Koordination und Steuerung von Hilfen haben dies zu berücksichtigen. Grundlage dafür ist ein gemeinsames Verständnis regionaler Verantwortung. In diesem Symposium werden aus unterschiedlichen Perspektiven die aktuelle Datenlage u.a. zur Anzahl entlassungsfähiger Patienten in psychiatrischen Kliniken und Bedarfsschätzungen an entsprechenden Wohnformen dargestellt, notwendige strukturelle Veränderungen werden diskutiert.
08:30 Uhr
Die „gestrandeten“ Kranken: Langzeitpatientinnen und -patienten in der psychiatrischen Versorgung
A. Bramesfeld (Hannover, DE)
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A. Bramesfeld (Hannover, DE)
Entgegen erklärter Psychiatriepolitik berichten psychiatrische Kliniken über Patienten/innen, die, obwohl die Therapie abgeschlossen ist, über Monate in psychiatrischen Kliniken verweilen. Eine Stichtagsbefragung im April 2021 aller pflichtversorgenden Erwachsenenpsychiatrien in Niedersachsen (N=27) und Kinder und Jugendpsychiatrien (N=11) erbrachte, dass sich zum Stichtag 60 Patienten/innen länger als 6 Monaten in 13 der 19 rückmeldenden Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie befanden, ohne dass weiterhin eine Indikation für eine stationäre Behandlung bestand. 50% dieser Personen waren länger als 9,5 Monate untergebracht, das Maximum lag bei 215 Monaten. Psychiatrische Abteilungen und Fachkliniken waren gleichermaßen betroffen. Eine Hauptursache für die Langzeitunterbringung, die zumeist auf geschlossenen Akutstationen erfolgte, waren erfolglose Versuche, eine aufnehmende Einrichtung zu finden oder aber das Vorliegen eines langfristigen betreuungsrechtlichen Unterbringungsbeschlusses.
08:52 Uhr
Besondere Wohnformen in der regionalen psychiatrischen Versorgung – wie viel wovon ist nötig?
I. Steinhart (Dortmund , DE)
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I. Steinhart (Dortmund , DE)
Seit Jahren sinkt die Zahl von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen, die in besonderen Wohnformen leben, nicht, sondern steigt eher leicht; ein präziser Überblick über geschlossene Plätze existiert überhaupt nicht.
Parallel fordern die psychiatrischen Kliniken eine deutliche Erhöhung von Plätzen in geschlossenen Wohnangeboten.
Die verbindliche, sogar „verpflichtende“ Einbettung der Angebote von besonderen Wohnformen in gemeindepsychiatrische Netzwerke ist nicht gegeben, im SGB IX so auch bisher nicht vorgesehen. Eine „Pflichtversorgung“ im Bereich der Assistenzleistungen für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen ist – das zeigen auch die bundesweiten Daten - nicht Flächendeckend vorhanden.
Anhand eines umfangreichen Datenmaterials einer bundesweiten Studie und ergänzenden Daten aus Mecklenburg-Vorpommern soll aufgezeigt werden, wie auf Personen zentrierte Hilfen fokussierte psychiatrische Assistenzleistungen beim Wohnen den Bedarf für Angebote besonderer Wohnformen – geschlossen wie offen - deutlich reduzieren würde. Auch ohne gesetzgeberische Veränderungen könnten hier weitere gemeinsame Schritte von Kliniken und Anbieter von Assistenzleistungen sowie den zuständigen Leistungsträgern gegangen werden.
Einen verbesserten Beitrag zur Angebotsqualität könnte auch die Einbindung der Assistenzleistungen beim Wohnen in regionale Pflichtversorgungsstrukturen bieten.
09:14 Uhr
Übergänge gestalten in Baden-Württemberg
J. Armbruster (Stuttgart, DE)
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Autor:in:
J. Armbruster (Stuttgart, DE)
Systemische und versorgungspolitische Probleme auf dem Weg zu einer regionalen Versorgungsverpflichtung - Übergänge gestalten in Baden-Württemberg
Aus einer systemischen und versorgungspolitischen Perspektive stellt sich die Frage, welche Strukturen und welche Kulturen innerhalb der beteiligten Organisationen der Kliniken, innerhalb der gemeindepsychiatrischen Hilfesysteme und der regionalen Versorgungsstrukturen zur Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Probleme beitragen. Durch welche strukturellen und organisationskulturellen Konzepte und durch welche sozialplanerischen Maßnahmen und Netzwerkansätze kann diesen Tendenzen entgegen getreten werden.
These: Die sozialrechtliche, leistungsrechtliche und organisationale Zersplitterung des Sozial- und Gesundheitssystems verstärkt institutionelle Eigenlogiken, die Abgrenzungen, selektive Aufnahmen befördern und einer geteilten regionalen Versorgungsverpflichtung im Wege stehen. Viele Träger agieren als geschlossenes System und versuchen sich angesichts begrenzter Ressourcen vor Überforderung durch Abgrenzung zu schützen und / oder verfolgen primär marktwirtschaftliche Präferenzen nach denen der „leichte“ gegenüber dem „schwierigen“ Fall präferiert wird.
Die Entwicklung der Gemeindepsychiatrie hat eine Reihe von Konzepten und Steuerungsansätzen hervorgebracht, die versuchen, dieser Tendenz zur Fragmentierung, zur institutionellen Abgrenzung zur selektiven Aufnahmepraxis entgegen zu wirken.
09:36 Uhr
Übergänge gestalten in Niedersachsen
M. Ziegenbein (Sehnde, DE)
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Autor:innen:
M. Ziegenbein (Sehnde, DE)
J. Krieger (DE)
H. Grimmelmann-Heimburg (DE)
Trotz intensiver Bemühungen verbleiben einige Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen dauerhaft in der akutpsychiatrischen Versorgung, ohne dass eine Überleitung in die langfristige Versorgung in Besonderen Wohnformen gelingt. Besondere Herausforderungen werden aus Sicht eines großen Trägers der Eingliederungshilfe geschildert und konkrete Impulse für notwendige Entwicklungen thematisiert.
Zentrale Herausforderungen ergeben sich zum einen auf Ebene der Kostenanerkenntnis. Bei komplexen Fällen benötigt eine Einigung bis zu einem Jahr und verzögert die Übernahme der Klient:innen.
Zudem entstehet durch Diskrepanzen der Finanzierungsgrundlagen die Schwierigkeit, dass die Fallvergütungen lediglich in stabilen Phasen der Klient:innen ausreichen. Bei auftretenden Krisen kann der Personalschlüssel (1:12) nicht die Versorgungsintensität und -qualität der geschützten Klinikbereiche (1:4) abbilden und den Erfordernissen annähernd gerecht werden. Es stellt sich die Frage, weshalb den betreuungsintensivsten Klient:innen innerhalb des Versorgungssystems die geringsten Beträge und Pauschalen zugestanden werden und in Niedersachsen immer noch zwischen seelisch und geistig behinderten Menschen unterschieden wird. Zusätzlich zu reduzierten personellen Möglichkeiten entstehen bei dem Wechsel von Krankenhausversorgung in die Eingliederungshilfe Beziehungsabbrüche, die Symptomverschlechterung oder Compliance-Verlust bewirken. Aus berufsethischer Perspektive ist der langfristige Erhalt psychischer Gesundheit der Mitarbeiter:innen bei stark herausfordernden Klient:innen und knappen Personalschlüsseln sowie stetig steigendem Fachkraftmangel kritisch zu diskutieren, wobei durch die generalistische Pflegeausbildung zeitnah weitere personelle Ressourcen entfallen werden.
Abschließend werden Empfehlungen für notwendige Änderungen strukturelle und finanzielle Änderungen der psychiatrischen Versorgung Schwersterkrankter vorgestellt und diskutiert.