Vor der Pandemie waren offene Türen in der Psychiatrie gerade in den deutschsprachigen Ländern ein vielfältig und auch kontrovers diskutiertes Thema, das eng mit konzeptionellen Fragen in psychiatrischen Kliniken verbunden ist. An dieser Frage wurden auch zahlreiche ethische Konflikte wie die zwischen Freiheit und Sicherheit und von Einzel- und Gruppeninteressen exemplarisch deutlich. Zunehmend war es in den letzten Jahren gelungen, die Möglichkeit, auch untergebrachte Patientinnen und Patienten mit offenen Türen zu behandlen, auch gesetzlich explizit zu implementieren. Die Covid 19-Pandemie bedeutete für alle derartigen Bestrebungen einen schweren Rückschlag, weil strikte Stationsschließungen wie auch in somatischen Krankenhäusern aus Gründen der Infektionsvermeidung zur Regel wurden. Das Konzept offener Türen ist auch durch diverse andere Entwicklungen unter Druck, zum Beispiel den Fachkräftemangel und die zunehmend ambulante oder auch stationsäquivalente Behandlung nicht unterbringungsbedürftiger Patienten. In dem Symposium wird das Thema von sehr unterschiedlichen Seiten beleuchtet. T. Steinert erläutert die konzeptuellen Herausforderungen und Möglichkeiten und die Entwicklungen, die eine Aufrechterhaltung des Erreichten bedrohen. L. Schreiber referiert eine sehr detailreiche quasi-experimentelle Studie zur Türöffnung mit Interventions-und Kontrollstationen in Tübingen und Friedrichshafen. J. Czerny wird über die in der Fachöffentlichkeit viel zu wenig beachtete generell offen geführte Psychiatrie in Wien und weiten Teilen Österreichs berichten. C. Huber hat sehr viel zu Zwangsmaßnahmen und offenen Türen in der Schweiz publiziert und wird ein Update geben.
15:30 Uhr
Offene Türen in der Psychiatrie – eine sich entfernende Utopie?
T. Steinert (Ravensburg, DE)
Details anzeigen
Autor:in:
T. Steinert (Ravensburg, DE)
Das Konzept, psychiatrische Stationen mit untergebrachten Patient:innen offen zu führen, gehört zu den großen Errungenschaften stationärer psychiatrischer Behandlung. Es wurde über viele Jahre entwickelt, ganz überwiegend in den deutschsprachigen Ländern, aus denen auch der Großteil der wissenschaftlichen Literatur stammt. Es wird am ehesten möglich mit einer Verteilung unfreiwilliger Patienten über verschiedene Stationen und hoher Expertise eines ganzen Behandlungsteams. Der Gesetzgeber ist inzwischen der Entwicklung gefolgt und hat in verschiedenen deutschen Bundesländern offene Unterbringungsformen ermöglicht oder sogar priorisiert. Diese Errungenschaften sind aber schon jetzt und zukünftig noch mehr bedroht durch verschiedene Entwicklungen. Die Corona-Pandemie hat aus Gründen der Infektionsprävention, wie auch in somatischen Krankenhäusern, zu einer Konzeption der strikten Trennung von „innen“ und „außen“ mit geschlossenen Stationen und kontrollierten Ausgängen geführt. Der anhaltende Fachkräftemangel führt schnell zu einem Verlust der Expertise, die psychiatrische Behandlungsteams für eine Haltung der offenen Türen auch mit untergebrachten Patienten benötigen. Ferner besteht ein hoher Druck auf die verfügbare Platzzahl in Krankenhäusern. Je weniger stationäre Betten vorhanden sind, desto größer ist die Konzentration untergebrachter Patienten und desto schwieriger ist eine Türöffnung aufrecht zu erhalten. Auch die Transformation in außerstationäre Behandlungsformen (StäB) trägt zu dieser Entwicklung bei. Schließlich ist auch der Klimawandel zu berücksichtigen, der möglicherweise künftig Klimaanlagen und hermetisch geschlossene Räume (einschließlich geschlossener Fenster) erforderlich macht und die Atmosphäre in psychiatrischen Stationen verändert.
15:52 Uhr
ODBYFAM (Open doors by fair means): Ergebnisse einer kontrollierten quasi-experimentellen Studie zur Türöffnung
L. Schreiber (Tübingen, DE)
Details anzeigen
Autor:innen:
L. Schreiber (Tübingen, DE)
F. Metzger (DE)
E. Flammer (DE)
H. Rinke (DE)
J. Wolff (DE)
A. Fallgatter (DE)
T. Steinert (DE)
Aktualisierte Gesetze zur psychischen Gesundheit erlauben eine offene Unterbringung unfreiwillig behandelter Patienten. Die Durchführbarkeit solcher Konzepte bedarf fundierter Untersuchungen.
Methoden: Es wurden die zwei Psychiatrischen Kliniken Friedrichshafen und Tübingen mit jeweils zwei Akutstationen verglichen. Nach einer Baseline-Phase wurde auf je einer Akutstation pro Standort eine Offene-Tür-Politik etabliert. Evaluiert wurden die durchschnittlichen Öffnungszeiten zwischen 8 und 20 Uhr, der Anteil der Behandlungstage mit zumindest zeitweise offener Tür und die Anzahl unfreiwilliger Behandlungstage mit offener Tür. Darüber hinaus wurden Prädiktoren für die Dauer der Türöffnung untersucht und Fokusgruppen mit Patienten und Mitarbeitern durchgeführt.
Ergebnisse: Die Türöffnungszeiten unterschieden sich signifikant zwischen Baseline- und Interventionsphase, sowie zwischen Kontroll- und Interventionsgruppe.
Im Interventionszeitraum erreichten die Interventionsstationen Türöffnungszeiten von bis zu 80,8% (Friedrichshafen). Die Häufigkeit unerwünschter Ereignisse oder von Zwangsmaßnahmen nahm während des Interventionszeitraums nicht zu.
Auf der Friedrichshafener Interventionsstation konnten bis zu 91% der unfreiwilligen Behandlungstage mit offenen Türen durchgeführt werden, auf der Tübinger Interventionsstation bis zu 45%.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Station an einem bestimmten Tag mindestens eine Stunde lang geöffnet war, verringerte sich mit dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen und war erhöht, je mehr Personal anwesend war.
Die qualitative Auswertung der Fokusgruppen zeigte ein heterogenes Bild hinsichtlich der Bewertung einer offenen Stationsführung.
Fazit: Die Umsetzung einer Offenen-Tür-Politik auf psychiatrischen Akutstationen ist möglich, ohne zu einem Zuwachs unerwünschter Ereignisse zu führen. Zusätzliches Personal scheint die Umsetzung zu begünstigen. Subjektive Einordnungen von Patienten und Mitarbeitern gilt es zu berücksichtigen.
16:14 Uhr
Offene Psychiatrie in Österreich, eine Pionierleistung?
J. Czerny (Wien, AT)
Details anzeigen
Autor:in:
J. Czerny (Wien, AT)
In weiten Teilen Österreichs gibt es seit über vierzig Jahren eine Tradition der offen geführten psychiatrischen Stationen. In den Bundesländern Wien und Niederösterreich werden fast alle Stationen konsequent offen geführt, an Standorten in den restlichen sieben Bundesländern gibt es Modelle der geschlossen geführten Akutstationen und offen geführten Subakutstationen oder der fakultativ geöffneten Stationen. Bislang fehlt allerdings eine empirische Evaluation und ein Vergleich der angewandten Modelle, v.a. im Hinblick auf die Reduktion/Vermeidung von Zwangsmaßnahmen und was außer einer „Tür-Öffnung“ noch für best-practice Modelle implementiert und umgesetzt werden. Dies macht sich die Arbeitsgruppe „ICOPPA“ (Initiative for COercion Preventing Measures in Austrian Psychiatry) zur Aufgabe.
Am Beispiel von Wien zeigt sich, dass die mit den Psychiatrieenquetten Ende der siebziger Jahre einhergehende sozialpsychiatrische Reform, mit der Gründung einer gemeindenahen ambulanten Versorgung (Psychosozialer Dienst – PSD), einer Deinstitutionalisierung der psychiatrischen Versorgung mit erheblichen Bettenabbau und einer konsequenten Regionalisierung der Betreuung psychisch erkrankter Menschen, etwas in die Jahre gekommen ist. So bahnbrechend und revolutionär diese Veränderungen damals waren, so notwendig ist eine Anpassung dieses Versorgungsmodells an die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und zeitgemäße sozialpsychiatrische Konzepte.
Die gelebte Tradition der Türöffnung kann dabei nur als Teil eines notwendigen Gesamtkonzeptes gesehen werden. Dieses sollte von der Implementierung empirisch belegter Maßnahmen im stationären Bereich, über ein vermehrtes Einbeziehen Psychiatrieerfahrener und ihrer Angehöriger in den Diskurs, bis zu einer verbesserten Kooperation und Vernetzung der verschiedenen Anbieter psychiatrischer Betreuung sowie mit der Exekutive, im Sinne einer integrierten Versorgung, reichen.