Raum:
Saal A1/2 (Stream/on Demand)
Topic:
Wissenschaftliches Programm
Topic 08: Störungen mit enger Beziehung zum Kindes- und Jugendalter, F7–9
Stream/on Demand
Format:
Symposium
Dauer:
90 Minuten
Besonderheiten:
Q&A-Funktion
Das Tourette-Syndrom ist eine kombinierte chronisch verlaufende motorische und vokale Tic-Störung. Tics werden definiert als plötzliche, rasche, wiederkehrende, nicht-rhythmische, motorische Bewegungen oder Vokalisationen. Tics können „einfach“, aber auch sehr „komplex“ sein. Am häufigsten bestehen aber einfache motorische Tics wie Blinzeln, Grimassieren und Kopf rucken und einfache vokale Tics wie Räuspern, Schniefen und Hüsteln.
Während funktionelle Bewegungsstörungen mit Tourette-ähnlichen Symptomen bislang als selten galten, werden seit wenigen Jahren weltweit gehäuft Patient:innen vorstellig, bei denen akut dem Tourette-Syndrom ähnliche funktionelle Symptome auftraten mit komplexen Bewegungen, Ausrufen von Schimpfwörtern und Beleidigungen sowie sozial unpassenden Verhaltensweisen.
Ziel dieses Symposiums ist es, auf diese neue Präsentation einer funktionellen Störung aufmerksam zu machen. Dazu werden zunächst die klinischen Merkmale des Tourette-Syndroms vorgestellt. Nachfolgend wird ein Überblick über bisher vorliegende Daten zu funktionellen Tourette-ähnlichen Bewegungsstörungen gegeben inklusive Ergebnissen einer eigenen Studie mit 32 Patient:innen. In den Vorträgen sollen insbesondere die Unterschiede aufgezeigt und praktische Hinweise zur Differentialdiagnose gegeben werden. Hierzu werden auch typische Videos von Patient:innen mit Tics/Tourette-Syndrom einerseits und funktionellen Tourette-ähnlichen Bewegungsstörungen andererseits demonstriert. Im dritten Vortrag werden Daten einer repräsentativen Umfrage an 2.509 Personen in Deutschland vorgestellt, die erstmals Hinweise auf die Prävalenz dieser neuen Form einer funktionellen Bewegungsstörung liefern. Im letzten Vortrag werden Ergebnisse einer eigenen Studie präsentiert, aus der prädisponierende und unterhaltende Faktoren ersichtlich werden. Schließlich wird auf den Einfluss von sozialen Medien eingegangen und die Hypothese eines Ausbruchs einer sich via Internet ausbreitenden Massenkrankheit vorgestellt.
08:30 Uhr
Tourette-Syndrom: Was sind die typischen Merkmale und wie wird die Diagnose gestellt?
N. Szejko (Warschau, PL)
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Autor:innen:
N. Szejko (Warschau, PL)
K. Müller-Vahl (DE)
Tourette syndrome (TS) is neurodevelopmental disorder charaterized by the presence of motor and vocal tics, childhood onset and minimal duration of symptoms of one year. In vast majority of patients, psychiatric comorbidities co-exist, with attention-deficit-hyperactivity disorder (ADHD) being the most common in children and obsessive-compulsive disorder (OCD) in adults. The purpose of this talk is to present an overview of TS symptoms, course and current guidelines of TS diagnosis. First, an overview of tics and their types is presented as well as typical features, such as premonitory urge, distractibility, suggestibility, waxing and waning nature and context dependence. Also, basic information about epidemiology, clinical course and comorbidities and current tic classification is presented. In addition, profile of comorbidities is discussed, with the particular attention to ADHD, OCD, rage attacks, self-injurious behaviors, autism spectrum disorders, neuropsychological impairment and mood disorders. What is more, the most clinically relevant differential diagnosis is discussed. Finally, an overview of the current guidelines for tic asssessment by the European Society for the Study of Tourette syndrome is presented. Specifically, useful scales for assessment of tics, quality of life and comorbidities are discussed.
08:52 Uhr
Funktionelle Tourette-ähnliche Störungen: Wie erkenne ich das?
K. Müller-Vahl (Hannover, DE)
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Autor:in:
K. Müller-Vahl (Hannover, DE)
Eine funktionelle Bewegungsstörung ist durch einen teilweisen oder vollständigen Verlust der willentlichen Kontrolle über die eigenen Bewegungen gekennzeichnet. Funktionelle Bewegungsstörungen werden nicht als eine willentliche Handlung, Simulation oder ein bewusstes Vortäuschen von Symptomen verstanden. Während funktionelle „Tics“ bis vor kurzem als relativ seltene Form einer funktionellen Bewegungsstörung galten, werden seit 2019 überwiegend bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehäuft funktionelle „Tourette-ähnliche“ Störungen beobachtet. In ursächlichem Zusammenhang werden Videos mit eben solchen Darstellungen auf Social Media Kanälen angesehen.
Typischerweise wird das Symptommaximum innerhalb weniger Tage oder Wochen erreicht. Dabei bestehen kaum Zuckungen und Vokalisationen, die an einfache motorische und vokale Tics erinnern, sondern vornehmlich komplexe, meist stereotyp ablaufende Bewegungen (überwiegend Bewegungen der Arme, Selbstschlagen, Schlagen gegen Gegenstände oder andere Personen, Werfen von Gegenständen), Lautäußerungen mit Pfeifen, lauten Ausrufen und dem Aussprechen (meist zahlloser, oft obszöner) Wörter sowie bizarre und sozial unpassende Handlungen und Verhaltensweisen (etwa Herunterwerfen von Gegenständen und Essen, Auskippen von Getränken, Stoßen anderer Personen) wie sie für das Tourette-Syndrom unbekannt sind. Mehrheitlich können in engem zeitlichen Zusammenhang spezifische Auslöser identifiziert werden etwa soziale, familiäre oder Pandemie bedingte Stressoren oder traumatische Ereignisse. Stets werden Faktoren berichtet, die zu einer deutlichen Symptomzu- oder -abnahme oder sogar langanhaltenden Symptomfreiheit führen. Nicht selten finden sich in der Vorgeschichte andere funktionelle neurologische Symptome (etwa nicht-epileptische Anfälle). Bemerkenswert ist die hohe Zahl an psychiatrischen Komorbiditäten: am häufigsten Angst- und depressive Störungen sowie strukturelle Defizite. Typische Anti-Tic-Medikamente sind wirkungslos.
09:14 Uhr
Prävalenz funktioneller Tourette-ähnlicher Störungen: Ergebnisse einer repräsentativen Studie
C. Klages (Hannover, DE)
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Autor:innen:
L. Hackspiel (DE)
C. Fremer (DE)
C. Klages (Hannover, DE)
A. Pisarenko (DE)
M. Haas (DE)
E. Jakubovski (DE)
K. Müller-Vahl (DE)
N. Szejko (PL)
Seit etwa 3 Jahren wird weltweit eine Zunahme an Patient:innen mit funktionellen, dem Tourette-Syndrom (TS) ähnlichen Symptomen (engl. functional Tourette-like behavior; FTB) beobachtet, was als Ausbruch einer durch soziale Medien induzierten Massenerkrankung erklärt werden kann (engl. mass social media-induced illness; MSMI). In Deutschland haben wir den Protagonisten des YouTube-Kanals „Gewitter im Kopf“ als virtuelle Indexperson dieses Ausbruchs identifiziert, da Patient:innen, die sich in unserer Spezialambulanz vorstellen, ähnliche oder identische Symptome zu ihm aufweisen. Es wird vermutet, dass Lockdown, soziale Isolation und andere Folgen der COVID-19-Pandemie den Ausbruch der MSMI vorangetrieben haben. Ziel dieser Studie war es, erste Daten zur Prävalenzrate von MSMI-FTB in Deutschland zu liefern.
In Zusammenarbeit mit dem Markt- und Sozialforschungsinstitut USUMA wurde eine repräsentative Bevölkerungsbefragung in Deutschland durchgeführt. Zwischen August und Dezember 2021 wurden 2.509 Personen zufällig ausgewählt, befragt und gebeten, für sich selbst und Familienangehörige, Antworten zu geben. Insgesamt erhielten wir Antworten für n=9.253 Personen. Zusätzlich zu einer Umfrage zu demografischen Daten füllten die Proband:innen einen Fragebogen aus, in dem nach schnell einsetzenden komplexen Bewegungen und Lautäußerungen gefragt wurde.
Basierend auf unseren Daten ist MSMI-FTB eine seltene funktionelle Bewegungsstörung (engl. functional movement disorder) mit einer (aktuellen) Prävalenzrate von 0,16 % in Deutschland. Die Prävalenz ist im Vergleich zum TS geringer, aber ähnlich wie bei anderen seltenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Diese ersten Daten zur Prävalenz von MSMI-FTB unterstreichen die gesundheitsökonomische Relevanz dieser neuen Form einer funktionellen Störung und verdeutlichen die Bedeutung der Aufklärung von Angehörigen von Gesundheitsberufen und der breiten Öffentlichkeit, um Fehldiagnosen und falsche Behandlungen zu vermeiden.
09:36 Uhr
Welche Faktoren prädisponieren für das Auftreten einer durch soziale Medien induzierten funktionellen Tourette-ähnlichen Störung?
L. Hartung (Hannover, DE)
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Autor:innen:
L. Hartung (Hannover, DE)
C. Fremer (DE)
N. Szejko (PL)
A. Pisarenko (DE)
M. Haas (DE)
L. Laudenbach (DE)
C. Wegener (DE)
K. Müller-Vahl (DE)
Seit Anfang 2019 beobachten wir weltweit eine Zunahme an funktionellen Tourette-ähnlichen Störungen (engl. functional Tourette-like behavior; FTB). Während es sich beim Tourette-Syndrom um eine neuro-psychiatrische Erkrankung handelt, werden funktionelle Bewegungsstörungen (engl. functional movement disorder, FMD) im ICD-10 den „neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen“ zugerechnet. Erklärungsmodelle hierfür beinhalten v.a. unspezifische Faktoren wie Stress, traumatische Erfahrungen, soziale Konflikte und dysfunktionale Grundannahmen und Verhaltensweisen.
Aktuell sind wir mit einer durch soziale Medien ausgelösten Massenerkrankung (engl. mass social media induced illness, MSMI) konfrontiert, bei der es sich um eine neue Art von soziogener Massenerkrankung (engl. mass sociogenic illness, MSI) handelt. Die Entstehung von MSI ist u.a. assoziiert mit Stress, psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie Prozessen der Symptomverstärkung durch Aufmerksamkeitslenkung.
Um Betroffenen von MSMI-FTB eine angemessene Therapie anbieten zu können, ist es wichtig, prädisponierende sowie aufrechterhaltende Faktoren zu kennen. Dafür sollen die Ergebnisse einer Studie mit 32 Patient:innen mit MSMI-FTB aus unserer Tourette-Spezialambulanz vorgestellt werden, die mit Hilfe einer umfangreichen neuropsychiatrischen Untersuchung und eines neu entwickelten halbstrukturierten Interviews erhoben wurden. Hierbei wurden zugrundeliegende psychologische (wie zeitlich assoziierte Faktoren, unbewusste intrapsychische Prozesse und strukturelle Defizite) sowie aufrechterhaltende Faktoren (u.a. Krankheitsgewinn) identifiziert. Die Behandlung von Patient:innen mit MSMI-FTB sollte diese prädisponierenden und erhaltenden Faktoren unbedingt berücksichtigen.