1945 prägte Jean Dubuffet den Begriff Art brut für originelle Werke von Laien, die außerhalb von Traditionen und aktuellen Kunstströmungen entstanden waren, die er jedoch für die eigentliche Kunst hielt, darunter Werke von Psychiatrieinsassen. Damit bezog er Stellung in der Debatte über die Zuordnung dieser Werke zwischen Pathologisierung und Aufwertung zur Kunst. Die Debatte hatte vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen, bis sie – im deutschen Sprachraum – mit dem Nationalsozialismus fast vollständig verdrängt worden war. In den folgenden Jahrzehnten standen diese Werke im Zentrum von Aushandlungsprozessen, in die sich neben Psychiater*innen, Ausstellungs-macher*innen, Galerist*innen, Sammler*innen, Journalist*innen, Kunsttherapeut*innen nicht zuletzt die Künstler*innen selbst einmischten. Diese Aushandlungsprozesse werden derzeit in einem DFG-Projekt der Forschungsgruppe „Normal#verrückt. Zeitgeschichte einer erodierenden Differenz“ erforscht.
Das Symposium gibt Einblick in erste Ergebnisse. Nach einer Einführung stehen drei „Beziehungsgeschichten“ zwischen Psychiatern und (Werken der) von ihnen besonders geschätzter Künstlerpatienten im Vordergrund. Der Göttinger Psychiater Hemmo Müller-Suur würdigte die Werke des Architekten, Anstaltspatienten und „Euthanasie“-Opfers Paul Goesch und zeigte sie in der Wanderausstellung "Documenta Psychopathologica" 1965/1967. Manfred in der Beeck traf im westfälischen Anstaltsdienst auf den technischen Zeichner und zwangseingewiesenen „Querulanten“ Erich Spießbach und regte ihn zu Zeichnungen an, die in der therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle spielten. Leo Navratil förderte eine Reihe von Künstler-Patienten im Gugginger Haus der Künstler bis zu ihrer Präsenz auf dem Kunstmarkt, darunter Rudolf Limberger (Max), dessen Werke Stilmittel aus einem Zeichentest aufnehmen. Diese drei „Beziehungsgeschichten“ verdeutlichen schlaglichtartig unterschiedliche Herangehensweisen an das Spannungsfeld Kunst und Psychiatrie.
10:15 Uhr
Normal#verrückte Kunst: Werke aus psychiatrischem Kontext zwischen Diagnostik und Ästhetik nach 1945
M. Rotzoll (Heidelberg, DE)
10:59 Uhr
Manfred in der Beeck und Erich Spießbach: Kunst im Zentrum einer therapeutischen Beziehung
C. Beyer (Heidelberg, DE)
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Autor:in:
C. Beyer (Heidelberg, DE)
Als junger Assistenzarzt traf Manfred in der Beeck 1950 in der Provinzial-Heilanstalt Marsberg auf den Zeichner und Präparator Erich Spießbach. Als Spießbach wegen einer Tuberkulose-Erkrankung isoliert werden musste, verschaffte ihm in der Beeck Zeichenmaterial zur „Besserung der Einsamkeit“. Es folgte eine Phase intensiver Kreativität, in der Spießbach von 1951 bis 1952 mehr als 300 Zeichnungen anfertigte. In der Beeck beließ Spießbach trotz durchgestandener Erkrankung noch länger in Isolation, um eine „kleine Sammlung von Arbeiten zusammenzubekommen“. Nachdem der Patient politisch provokative Arbeiten anfertigte, wurde er wieder auf eine Wach-Station verlegt. Damit stellte er sein Schaffen nahezu völlig ein. Nach seiner Verlegung in die Landesheilanstalt Münster 1953 kam Spießbach bei einem Fluchtversuch 1956 ums Leben.
Die Werke Spießbachs verblieben im Besitz in der Beecks und können als Initialzündung seines lebenslangen Interesses an Art Brut und Outsider Art gesehen werden. Mit der Wahrnehmung dieser Werke als „psychopathologische Ausdrucksformen“ konzentrierte sich in der Beeck auf die Interpretation von Spießbachs Schaffen unter diagnosespezifischen Aspekten, etwa einem vermeintlichen „schizophrenen Humor“. Seine eigene Rolle in dieser ebenso kurzzeitigen wie einzigartigen Arzt-Patient-Konstellation reflektierte er nicht, obwohl sie einen wesentlichen Inhalt der Werke Spießbachs bildeten.
Der Vortrag zeichnet die besonderen Bedingungen dieses asymmetrischen Arzt-Patienten-Verhältnisses nach und beleuchtet, wie in der Beeck als kunstaffiner Psychiater über das Werk Spießbachs interpretierend verfügte.
11:21 Uhr
Leo Navratil und Rudolf Limberger (Max): vom Schizophrenie-Test auf den Kunstmarkt
T. Röske (Heidelberg, DE)
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Autor:in:
T. Röske (Heidelberg, DE)
Der österreichische Psychiater Leo Navratil (1921–2006), von 1956 bis 1986 Chefarzt (Primar) der Heil- und Pflegeanstalt Gugging, war Entdecker und Förderer eine Gruppe von künstlerisch tätigen Patienten, die seit den 1970er Jahren als Künstler zu Weltruhm kamen. Wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung nahmen österreichische Künstler wie Arnulf Rainer. In ersten Buch Navratils zum Thema, „Schizophrenie und Kunst“ (1965), werden die Patienten noch anonym aufgeführt und vor allem diagnostisch betrachtet. Seit den 1980er Jahren sind die meisten aber mit Klarnamen und ausführlichen Biographien in Ausstellungen vertreten.
Rudolf Limberger (1937–1988), der noch bis Ende der 1990er Jahre als „Max“ firmierte, kam bereits mit 16 Jahren zum ersten Mal als Patient nach Gugging, danach immer wieder, bis er ab 1975 dauerhaft aufgenommen wurde. Er hat fast nur frontal zum Betrachter ausgerichtete Figuren mit rechteckigem Rumpf gezeichnet, die er oftmals mit heftigen Hiebkritzeln überarbeitete. In der zeichnerischen „Deformation“ sowie in der „gesteigerten Motorik“ sah der Psychiater Zeichen für eine „psychotische Störung“, der Kunstbetrieb deutete sie als authentischen Ausdruck. Am Beispiel von Limberger lassen sich der Weg von Werken aus psychiatrischem Kontext in den Kunstmarkt sowie der Wandel ihrer Rezeption besonders gut nachvollziehen.