Raum:
Saal A3 (Stream/on Demand)
Topic:
Wissenschaftliches Programm
Topic 26: Ethik, Philosophie und Spiritualität
Stream/on Demand
Format:
Symposium
Dauer:
90 Minuten
Besonderheiten:
Q&A-Funktion
Die Konzepte „Unheilbarkeit“ und „Futility“ (dt. Aussichtslosigkeit) sind im psychiatrischen Kontext bisher wenig untersucht worden. Empirische Studien zeigen zwar, dass Psychiater:innen die Konzepte im klinischen Alltag durchaus (implizit) anwenden. Es bestehen jedoch keine etablierten Standards dazu, ob und, wenn ja, wann schwere psychische Erkrankungen als unheilbar eingestuft werden können bzw. sollten. Bei Patient:innen mit jahrzehntelangen Krankheitsverläufen, bei denen evidenzbasierte Behandlungsversuche zu keiner Besserung geführt haben, stellt sich aber die Frage, wann psychiatrische Behandlungsansätze als aussichtslos angesehen werden können bzw. sollten.
Das Symposium diskutiert aus medizinethischer und psychiatrischer Sicht, wie Unheilbarkeit im Kontext schwerer psychischer Erkrankungen definiert werden und in der klinischen Praxis beurteilt werden könnte. Es werden unterschiedliche Bereiche untersucht, in denen Unheilbarkeit und Futility eine Rolle spielen. So könnte die Feststellung von Futility signalisieren, wann ein palliativ-psychiatrischer Ansatz angezeigt ist, um die Risiken weiterer ineffektiver Behandlungen zu vermeiden und die Lebensqualität zu stabilisieren oder zu verbessern. Unheilbarkeit ist in vielen Ländern zudem eine wesentliche Voraussetzung für den Zugang zu assistiertem Suizid bei psychischen Erkrankungen. Kontrastiert wird die Debatte um Unheilbarkeit und Futility abschließend mit einem Vortrag über das Ende der Unheilbarkeit und die Recovery-Bewegung, die in der medizinethischen und philosophischen Debatte bislang vergleichsweise wenig rezipiert wurden.
17:15 Uhr
Futility in der Psychiatrie?
A. Westermair (Zürich, CH)
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Autor:in:
A. Westermair (Zürich, CH)
Obgleich empirische Evidenz zeigt, dass Fachpersonen für psychische Gesundheit sich durchaus mit Futility (dt. Aussichtslosigkeit) beschäftigen, wird dieses Thema kaum explizit diskutiert oder beforscht. In diesem Vortrag wird zwischen quantitativer Futility (inakzeptabel niedrige Chancen auf Behandlungserfolg) und qualitativer Futility (inakzeptables Verhältnis von Nutzen zu Belastung durch die Behandlung) unterschieden. Dabei bezieht sich Futility immer nur auf die Aussicht, bei einem spezifischen Patienten zum aktuellen Zeitpunkt mit einem spezifischen Behandlungsplan ein spezifisches Behandlungsziel zu erreichen. Diese Spezifität von Futility bietet Ansatzpunkte zum Umgang mit herausfordernden klinischen Situationen. Zum Einen kann der Behandlungsplan optimiert werden, was gang und gäbe ist. Zum Anderen kann eine explizite Klärung des primären Therapieziels (engl. goal of care discussions) helfen, einen Behandlungsplan mit akzeptablem Nutzen/Belastungs-Verhältnis zu erstellen. Behandlungsziele werden in der Psychiatrie selten explizit gemacht, vielmehr sind sie häufig fix vorgegeben, z.B. in Psychotherapieprogrammen. Klassischerweise wird eine Remission oder zumindest Reduktion der Hauptsymptome der Erkrankung angestebt, beispielsweise eine Gewichtsnormalisierung bei Anorexie-Patient:innen. Bei manchen Menschen mit schweren und persistierenden psychischen Erkrankungen ist die Verfolgung eines solchen kurativen Behandlungsziels jedoch mit extrem niedrigen Erfolgsaussichten und/oder sehr grossen Belastungen für den/die Patienten/in verknüpft, also aussichtslos. Eine Therapiezieländerung in Richtung palliativer Behandlungsziele wie Schadensminderung, Linderung von Leiden und Verbesserung der Lebensqualität kann den Ausgangspunkt für eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Versorgung der Betroffenen darstellen.
17:37 Uhr
Palliative Psychiatrie – Konzept, Chancen, Herausforderungen
M. Trachsel (Basel, CH)
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Autor:in:
M. Trachsel (Basel, CH)
Trotz der mittlerweile gut etablierten Integration psychiatrischer Expertise in der Palliativversorgung bietet die Psychiatrie außerhalb des Kontextes terminaler somatischer Erkrankungen bisher keine explizite Palliative Care für Personen mit psychischen Erkrankungen.
Auf der Grundlage der WHO-Definition von Palliative Care ist die Definition von Palliativer Psychiatrie entstanden. Palliative Psychiatrie kann bei Patient:innen mit schweren, chronischen und therapierefraktären psychischen Erkrankungen zur Anwendung kommen, bei denen im Rahmen der derzeitigen Paradigmen die Gefahr therapeutischer Vernachlässigung oder übermäßig aggressiver Behandlung besteht. Dazu gehören beispielsweise Patient:innen mit schwerer chronischer Schizophrenie, therapierefraktären Wahnsymptomen und tiefer Lebensqualität, Patient:innen mit therapierefraktären depressiven Störungen und wiederholten Suizidversuchen sowie Patientinnen mit schwerer, langjähriger und therapieresistenter Anorexia nervosa.
Im Vortrag werden Konzept, Potential und Herausforderungen von Palliativer Psychiatrie diskutiert.
17:59 Uhr
Unheilbarkeit im Kontext des assistierten Suizids bei Menschen mit psychischen Störungen
E. Braun (Bochum, DE)
18:21 Uhr
Recovery und das Ende der Unheilbarkeit
M. Amering (Wien, AT)
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Autor:in:
M. Amering (Wien, AT)
Recovery ist gesundheitspolitische Vorgabe in einflussreichen englischsprachigen Ländern und gewinnt international an Bedeutung. Recovery als Entwicklung aus den Beschränkungen der PatientInnenrolle hin zu einem selbstbestimmten sinnerfüllten Leben hat für Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen schon immer eine bestimmende Rolle gespielt. Ihre Erfahrungen und konzeptuelle und Forschungsarbeit waren Grundlage und Antrieb für die Recovery-Bewegung. Den Vorurteilen zu Unbeeinflussbarkeit und Unheilbarkeit psychiatrischer Erkrankungen und der Skepsis gegenüber den Möglichkeiten zur Gesundung wurden reiche Erfahrungen und Daten zu Remission gegenübergestellt und Missverständnisse zu dem Konzept der Chronizität korrigiert. Gleichzeitig beschreibt Recovery einen Zugang zu psychosozialen Beeinträchtigungen, der, im Bewusstsein der möglichen Grenzen, die eine psychiatrische Störung verursachen kann, Selbstbestimmung, Empowerment und Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellt. Die Ziele und zentralen Elemente von Recovery decken sich mit jenen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), welche historisch erstmalig auch Menschen mit psychiatrischen Gesundheitsproblemen erfasst. Auf der Versorgungsebene finden sich die grössten Effektstärken für Interventionen, die Menschen in den von ihnen gewählten sozialen Rollen in der Gesellschaft personen-zentriert unterstützen. Die menschenrechtlichen Vorgaben zu Informed Consent, Selbstbestimmung und geteilter Entscheidungsfindung sowie gewaltfreie Alternativen zur Krisenintervention finden vermehrt Beachtung. Die Einbeziehung von Personen mit gelebter Erfahrung auf allen Planungs- und Entscheidungsebenen ist nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern entspricht auch der aktuellen Datenlage zum Kampf gegen Stigma und Diskriminierung und wird im Trialog von Familien und FreundInnen zur erfolgreichen Umsetzung eines menschenrechtsbasierten Ansatzes unterstützt.