Im klinischen Alltag fließen die Beobachtungen zu Bewegungsmustern psychisch erkrankter Menschen in die Erhebung des psychopathologischen Befundes häufig implizit mit ein. Aus der beiläufigen Wahrnehmung von Bewegungsmustern eröffnen sich bereits einige Erkenntnisse über den aktuellen Zustand oder den Verlauf von Erkrankungen, aber auch über Gemütszustände bei gesunden Personen. Auch im persönlichen Umfeld erkennen wir Bekannte an ihren charakteristischen, individuellen Bewegungsabläufen. Allerdings fehlt uns für diese Beobachtungen ein treffendes Vokabular. In den letzten Jahren erlaubten neue technische Hilfsmittel die Quantifizierung von spontanem Verhalten mit verhältnismäßig geringem Aufwand. Sogar die kontinuierliche, ambulante Verhaltensmessung ist möglich geworden und könnte die Psychopathologie bzw. Phänotypisierung bereichern. Dieses Symposium wird sich den aktuellen Erkenntnissen aus der Ganganalyse widmen. Ein Vortrag wird einen Überblick über die generellen Möglichkeiten der instrumentellen Bewegungsmessung in der Psychiatrie geben. Die drei anderen Beiträge widmen sich konkreten Untersuchungen zur Ganganalyse bei depressiv Erkrankten und Menschen mit Störungen des Schizophrenie-Spektrums. Dabei wird aufgezeigt werden, welche Gangparameter besonders geeignet sind, um psychopathologische Veränderungen zu erfassen. Ebenfalls wird diskutiert werden, welche Techniken sich leicht im klinischen Alltag oder sogar ambulant im Umfeld der Betroffenen implementieren lassen. Die Bewegungsanalyse wird neue, bislang wenig genutzte Informationen in die Diagnostik und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen einbringen.
08:30 Uhr
Ambulante Messung von Bewegungsmustern identifiziert psychopathologische Phänomene bei affektiven und psychotischen Störungen
S. Walther (Bern, CH)
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Autor:in:
S. Walther (Bern, CH)
Psychopathologie zeigt sich den Beobachtenden in gesprochener Sprache und Verhalten. Dabei kommt es auf die Geschwindigkeit, Auslenkung und Koordination einer Vielzahl von Bewegungen an, z.B. signalisieren wir Interesse, wenn sich Kopf und Augen unserem Gegenüber zuwenden. Bei einigen psychischen Erkrankungen sind die Geschwindigkeit, Amplitude und Koordination von Bewegungen empfindlich gestört. Diese Auffälligkeiten lassen sich durch Beobachtung und mithilfe klinischer Skalen erfassen. In den letzten Jahren werden zusätzlich objektive Messmethoden eingesetzt wie die Aktometrie, Videoanalysen oder Ganganalysen. So sind die Bewegungsmenge und Amplitude bei Patient:innen mit Schizophrenie oder Depression deutlich vermindert. Bei Schizophrenie fanden wir zudem, dass die innere Ordnung der Bewegungsabläufe mit Symptomen wie Desorganisatiion oder Erregung einhergehen. Bewegungen sind dabei ungewöhnlich lange verändert. In einer aktuellen Meta-Analyse konnten wir zeigen, dass selbst bei Menschen die von einer Depressiven Episode remittiert waren, deutlich geringere Bewegungsmengen verzeichnet wurden als bei Gesunden. Diese Verhaltensveränderungen gehen oft mit typischen Veränderungen in Hirnfunktion und Hirnstruktur einher, die im cerebralen motorischen System lokalisiert sind. Einige der Symptome, wie die generelle psychomotorische Verlangsamung, sind mit Störungen in prämotorischen Cortices vergesellschaftet. Hierfür wäre eine Behandlung mittels transkranieller Magnetstimulation potentiell hilfreich. Erste Ergebnisse weisen auf gute Effekte hin.
Zuisammenfassend lassen sich psychomotorische Phänomene objektiv messen und wahrscheinlich spezifisch behandeln. Sie geben Aufschluss über psychopathologische Symptome, die sich nicht einfach beobachten lassen.
08:52 Uhr
Gangmuster bei Depression: Analysen zu Wechselwirkungen von Körper und Psyche
J. Michalak (Witten, DE)
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Autor:in:
J. Michalak (Witten, DE)
In der psychologischen Grundlagenforschung konnten in den letzten Jahrzehnten in vielen Studien Wechselwirkungen zwischen motorischen und emotionalen Prozessen in nicht-klinischen Stichproben dokumentiert werden. In diesem Vortrag werden drei Studien vorgestellt die sich mit dem Gangmuster im Kontext depressiver Störungen beschäftigt haben. In der ersten Studien wurde in einem Bewegungslabor, das mit einem Motion-Capture System ausgestattet war, das Gangmuster von 14 depressiven Patientinnen und Patienten mit dem von 14 nicht-depressiven Personen verglichen. Es zeigte sich, dass depressive Personen eine reduzierte Ganggeschwindigkeit, reduzierte Armschwünge, eine reduzierte vertikale Dynamik des Ganges und eine zusammengesunkene Körperhaltung aufwiesen. Eine neue Studie, in der das Gangmuster depressiver Personen auch im Alltag mit einem ambulatorischen Messsystem über zwei Tage erfasst wurde und mit dem Gangmuster nicht-depressiver Personen verglichen wurde, konnte ähnliche Gangcharakteristika von depressiven Personen wie in der Laborstudie beobachten. Zusätzlich wurde in einer longitudinalen Analyse gezeigt, dass Geschwindigkeit und die vertikale Dynamik des Ganges Veränderungen in der positiven Stimmung, nicht aber in der negativen Stimmung vorhersagen konnte. In der dritten experimentellen Studie wurde das Gangmuster mit computerisiertem Gangfeedback verändert. Eine Gruppe von Probanden lief depressiver als normal, eine andere Gruppe fröhlicher als normal. In dieser Studie zeigte sich, dass das Gangfeedback Auswirkungen auf die Tendenz hatte, positives und negatives selbstreferentielles Material zu behalten: Personen die depressiv liefen, erinnerte einen höheren Anteil negativer Wörter als Personen die fröhlich liefen. Insgesamt liefern die durchgeführten Studien erste Hinweise darauf, dass motorische Prozesse in der Ätiologie von depressiven Störungen eine bedeutsame Rolle spielen können.
09:14 Uhr
Bewegungsmarker der Schizophrenie – detaillierte Analyse von Gangmustern
L. Martin (Heidelberg, DE)
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Autor:innen:
L. Martin (Heidelberg, DE)
K. Stein (Heidelberg, DE)
K. Kubera (DE)
N. Troje (CA)
T. Fuchs (Heidelberg, DE)
Hintergrund. Sogenannte Genuine Motor Abnormalities (GMA) – Bewegungsbesonderheiten, die unabhängig von medikamentösen Nebenwirkungen entstehen – werden bei 50 – 80 % aller Menschen mit Schizophrenie beobachtet. Obwohl Bewegungsbesonderheiten heute als zentraler Bestandteil der schizophrenen Psychopathologie verstanden werden und kürzlich als eigenständiger Symptombereich definiert wurden (RDoc), sind sie kein integraler Bestandteil von Beforschung und Diagnostik der Schizophrenie. Bewegungsanomalien werden im klinischen Alltag kaum festgehalten: Bekannte Untersuchungsskalen, wie beispielsweise die Positive and Negative Symptom Scale (PANSS) betrachten Bewegungssymptome auf sehr unspezifische und hochgradig subjektive Weise, nur sehr wenige der Untersuchungsmethoden erfassen Ganzkörperbewegung.
Methodik. Mithilfe von Motion Capturing haben wir Ganzkörperbewegungen beim Gehen von 40 Proband*innen (20 SCHZ, 20 CTRL) erfasst (8 MoCap Kameras, Qualisys, space accuracy 1mm, temporal resolution 120 Hz). Zusätzlich wurden Positiv- und Negativsymptome (PANSS) und Neurological Soft Signs (NSS) erhoben. In einer datengeleiteten Analyse, wurden die Bewegungsmuster der Teilnehmenden quantifiziert und verglichen. Sich ergebende Bewegungsbesonderheiten wurden mit den klinischen Skalen korreliert.
Ergebnisse. Wir konnten 16 Bewegungsmarker identifizieren, die auf Schizophrenie hinweisen: Patient*innen und Kontrollproband*innen unterscheiden sich beim Gehen beispielsweise signifikant in ihrer Körperhaltung, ihrer Geschwindigkeit, der Regelmäßigkeit des Gangs sowie der Flexibilität und Integration von Körperteilen. Besonders der Bewegungsabgleich der beiden Körperseiten, verschiedener Gliedmaßen und der Bewegungsrichtungen waren bei Menschen mit Schizophrenie beeinträchtigt. Die Bewegungsmarker hängen systematisch mit NSS zusammen und bleiben bei statistischer Medikationskontrolle signifikant unterschiedlich.
09:36 Uhr
Automatisierte Ganganalyse bei Patient:innen mit schwerer psychomotorischer Verlangsamung
M. Nuoffer (Bern, CH)
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Autor:innen:
M. Nuoffer (Bern, CH)
S. Lefebvre (Bern, CH)
N. Nadesalingam (Bern, CH)
D. Alexaki (Bern, CH)
D. Baumann Gama (Bern, CH)
F. Wüthrich (Bern, CH)
A. Kyrou (Bern, CH)
H. Kerkeni (Bern, CH)
R. Kalla (Bern, CH)
S. Walther (Bern, CH)
Schizophrenie ist eine schwere psychiatrische Störung bei der ca. 50% der Betroffenen an Bewegungsstörungen wie Psychomotorische Verlangsamung (PV) leiden. PV betrifft die Fein- und Grobmotorik inklusive Gang. Patienten mit Schizophrenie haben eine langsamere Gehgeschwindigkeit als Gesunde bei selbstgewähltem Gang. Unklar hingegen ist der Effekt bei anderen Gangparametern (Schrittfrequenz, Schrittlänge) oder bei anderen Gangbedingungen (z.B. schneller Gang) und besonders der Einfluss von PV. Mittels objektiver Ganganalyse soll der Einfluss von PV auf Gangparameter bei Schizophrenie untersucht werden.
Mit dem Sensorsystem GAITRite® erhoben wir die Gangdaten von 70 Patienten mit PV (Salpêtrière Retardation Rating Scale, SRRS, > 15), 22 Patienten ohne PV (SRRS < 15), und 42 gesunden Kontrollen. Experten erhoben den Schweregrad von hypokinetischen Bewegungsstörungen (PV [SRRS], Parkinson [UPDRS], Katatonie [BFCRS]).
Die ANCOVA zeigte Gruppenunterschiede bei Gehgeschwindigkeit, Schrittfrequenz und Schrittlänge in allen Gangbedingungen (alle F > 16.18, alle p < .0001). Die Patienten mit PV liefen langsamer, mit tieferer Schrittfrequenz, und kürzerer Schrittlänge als die Kontrollen in allen Gangbedingungen, wobei die Patienten ohne PV eine mittlere Position einnahmen. Zusätzlich korrelierte die langsame Gehgeschwindigkeit, niedrige Schrittfrequenz und kurze Schrittlänge mit dem Schweregrad hypokinetischer Bewegungsstörungen.
Patienten mit Schizophrenie weisen Veränderungen von Gangparametern auf. Dabei sind Patienten mit zusätzlicher PV besonders betroffen. Die Auffälligkeiten betreffen mehrere Gangparameter und bleiben über verschiedene Gangbedingungen bestehen. Die objektive Gangmessung erlaubt, hypokinetische Bewegungsstörungen bei Schizophrenie zu entdecken. Daher könnten objektive Ganganalysen in der Zukunft zur Messung von Behandlungseffekten oder zur Bestimmung von Verlaufsparametern der Schizophrenie herangezogen werden.