In der forensisch-psychiatrischen Forschung werden statistische Analysen meist mit Nullhypothesen-Signifikanztests oder linearen Regressionen durchgeführt. Die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen und pathologischer Verhaltensstörungen ist jedoch keineswegs ein lineares, lediglich von einzelnen, voneinander unabhängigen Faktoren beeinflusstes Geschehen. Hier bietet ML neue Möglichkeiten: Große Datensätze mit einer Vielzahl von Variablen können verarbeitet und komplexe und nicht-lineare Zusammenhänge analysiert werden. Nach differenzierter Quantifizierung der Qualität eines geeigneten statistischen Modells können aus komplexen Datensätzen einfache und präzise Vorhersagemodelle abgeleitet werden. Gerade in der psychiatrischen Forschung werden schlecht verstandene Phänomene und komplexe multifaktorielle Fragestellungen untersucht, deren Datenstrukturen sich daher besonders gut für den Einsatz von ML eignen und praktikable Modelle für alltägliche klinische Entscheidungen liefern können. Als Beispiel für die praktische Anwendung von ML soll die Identifikation von Prädiktoren für Aggression im Rahmen stationärer Behandlungen bei schizophrenen Rechtsbrechern dienen. Aufgrund der Komplexität des Phänomens Aggression bietet sich ML hier insbesondere aufgrund seiner Fähigkeit an, eine Vielzahl von Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen zu analysieren. Schliesslich sollen auch mögliche ethische Fallstricke, die sich aus der Ableitung klinischer Implikationen aus der Anwendung von ML ergeben, beleuchtet werde: Ab wann ist ein Algorithmus zur Bewertung des Gewaltrisikos gut genug, dass der Psychiater daraus Handlungskonsequenzen ableiten kann? Ist ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Screeningtool hilfreich zur Verhinderung ungünstiger Therapieverläufe oder stigmatisiert es Patienten basierend auf Datensätzen? Für Patienten wie auch für Behandler gilt es, ein für die Anwendung von ML geeignetes Wertesystem zu schaffen.
17:15 Uhr
Überblick über Machine Learning (ML) und dessen Einsatzmöglichkeiten in der forensischen Psychiatrie
J. Kirchebner (Zürich, CH)
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Autor:in:
J. Kirchebner (Zürich, CH)
Mit dem rasanten technologischen Fortschritt der letzten Jahre wird künstliche Intelligenz (KI) zunehmend auch in der medizinischen Forschung eingesetzt. Vereinfacht gesagt handelt es sich bei KI um ein System, das seine Performance auf der Grundlage seiner Wahrnehmung der Umgebung anpasst. Dazu gehören auch fortgeschrittene statistische Verfahren wie das maschinelle Lernen (ML), das die Analyse einer Vielzahl von Variablen und ihrer Beziehungen zueinander durch komplexe mathematische Algorithmen, sowie die Quantifizierung der Qualität eines statistischen Modells ermöglicht. In der forensisch-psychiatrischen Forschung werden statistische Analysen oftmals mit Nullhypothesen-Signifikanztestung oder einfachen Regressionsmodellen durchgeführt. Die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen und pathologischer Verhaltensstörungen ist jedoch ein komplexer, multifaktorieller Mechanismus, der noch nicht vollständig verstanden ist. Hier bietet die Anwendung von ML neue Möglichkeiten: Große Datensätze mit zahlreichen Variablen können verarbeitet und komplexe, nicht-lineare Zusammenhänge analysiert werden. Nach differenzierter Quantifizierung der Güte eines geeigneten statistischen Modells lassen sich aus komplexen Datensätzen einfache und präzise Vorhersagemodelle ableiten. Gerade in der forenisch-psychiatrischen Forschung werden bisher noch nicht umfassend verstandene Phänomene und komplexe multifaktorielle Sachverhalte untersucht, deren Datenstrukturen sich daher besonders gut für den Einsatz von ML eignen und praktikable Modelle für den klinischen Alltag und zur Vorhersage von Ereignissen im klinischen Verlauf liefern können. Im hiesigen Vortrag erfolgt eine Einführung in die Anwendung von ML in der forensisch psychiatrischen Forschung.
17:45 Uhr
Praktische Anwendung von Machine Learning (ML): begünstigende Faktoren für stationäre Aggressionsereignisse
L. Machetanz (Embrach, CH)
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Autor:innen:
L. Machetanz (Embrach, CH)
J. Kirchebner (CH)
S. Lau (CH)
Aggressionsereignisse im stationären Setting sind ein häufiges Problem in forensischen psychiatrischen Einrichtungen. Gewalttätiges Verhalten kann die Patientenversorgung beeinträchtigen, Patienten und Personal in Bedrängnis bringen und zu Verletzungen führen. Im Idealfall werden Patienten mit einem erhöhten Risiko für gewalttätiges Verhalten frühzeitig erkannt, sodass geeignete Präventivmaßnahmen, wie z. B. eine engmaschigere Überwachung, eingeleitet werden können. Aggression ist jedoch ein komplexes Konstrukt mit einer multifaktoriellen Ätiologie, die noch nicht vollumfassend verstanden ist. Durch die Anwendung von maschinellem Lernen (ML) kann eine große Anzahl von Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen analysiert werden. Zur Untersuchung stationärer Aggressionsereignisse bei straffälligen Patienten mit Schizophrenie-Spektrum-Störung (SSD) wandten wir ein geeignetes ML-Modell auf einen Datensatz von 370 Patienten an. Mit einer Balanced Accuracy von 77,6 % und einer AUC von 0,87 übertraf die Support Vector Machine (SVM) alle anderen ML-Algorithmen. Negatives Verhalten gegenüber anderen Patienten, Verstöße gegen Stationsregeln, der PANSS-Score zum Zeitpunkt des Klinikeintritts sowie schlechte Impulskontrolle erwiesen sich als die prädiktivsten Variablen bei der Unterscheidung zwischen aggressiven und nicht-aggressiven Patienten. Die vorliegende Studie dient als Beispiel für den praktischen Einsatz von ML in der forensisch-psychiatrischen Forschung im Hinblick auf das komplexe Zusammenspiel jender Faktoren, die zu aggressivem Verhalten bei SSD beitragen. Hierbei konnte gezeigt werden, dass psychische Erkrankungen und das damit verbundene antisoziale Verhalten andere Prädiktoren, zum Beispiel biographische Variablen, überwiegen. Die Tatsache, dass SSD auch in hohem Maße mit antisozialem Verhalten assoziiert ist, unterstreicht die Bedeutung einer frühzeitigen Erkennung und ausreichenden Behandlung.
18:15 Uhr
Ethische Gesichtspunkte von Machine Learning (ML)
M. Kassar (Zürich, CH)
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Autor:in:
M. Kassar (Zürich, CH)
Ethische Aspekte, die sich aus der Anwendung von ML in dem sensiblen Bereich der forensischen Psychiatrie ergeben, werden diskutiert
As a scientific discipline, machine learning represents the interface between statistics and computer science by allowing a computer to learn from data and applying efficient computational algorithms. Machine learning can also be used in areas where accuracy does not match that of a human expert. In these cases, broad interaction between the physician and the computer system is required so that medical errors can also be made visible to the public, which is part of responsible use of new technologies. Machine learning holds enormous potential for application in forensic psychiatry, which is why the use of this technology also carries risks. Algorithms may play a critical role in future treatment strategies and violence risk assessments in forensic psychiatry. Therefore, the concept of responsibility may also play a role in the context of scientific knowledge gained by a researcher using machine learning. Machine learning will have a major impact on the interface between psychiatry and law in the foreseeable future. The forensic psychiatrist is considered to have a causal responsibility to act, so ethical concerns arising from the application of machine learning must be considered in the process of establishing new technologies to install a necessary value system. An identification of the ethical implications of machine learning must therefore be analyzed with increased urgency.