Geburtshilfliche Kapazitäten digital und zentral aufzeigen? Die nutzer:innenzentrierte Entwicklung eines Kapazitätsnachweissystems für die klinische Geburtshilfe
C. Agricola (Hamburg, DE)
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Autor*innen:
C. Agricola (Hamburg, DE)
J. Kopetz (Lübeck, DE)
K. Stahl (Lübeck, DE)
N. Jochems (Lübeck, DE)
Hintergrund: In Deutschland werden regelmäßig Frauen telefonisch, vor Ort oder über den Rettungsdienst zur Geburt im präferierten Kreißsaal abgewiesen. Gründe hierfür können ein Personalmangel im Kreißsaal und in der Neonatologie oder ein Mangel an räumlichen Kapazitäten sein. Für das Abweisungsmanagement, die Identifikation und Vermittlung eines alternativen Kreißsaals gibt es in Deutschland kein standardisiertes Vorgehen. In der Regel sucht das Kreißsaalpersonal in bereits maximal ausgelasteten Situationen telefonisch nach einem Kreißsaal. Auch Frauen und ihre Begleitpersonen sind in dieser vulnerablen Situation in die Suche, die zeitineffizient und belastend sein kann, eingebunden. Für das Abweisungsmanagement werden innovative Lösungen zur transparenten Darstellung der geburtshilflichen Kapazitäten benötigt. Ein digitales Kapazitätsnachweissystem bietet die Möglichkeit, freie Kapazitäten bundesweit, zentral und in Echtzeit aufzuzeigen, um Ressourcen regional effizient zu nutzen.
Methodik: Im Rahmen dieser Arbeit wurde mit dem Ansatz des Human-centered Designs (HCD) ein Prototyp für eine Mensch-Technik-Schnittstelle (Benutzer: innenschnittstelle) für ein digitales Kapazitätsnachweissystem für die klinische Geburtshilfe entwickelt. Für die Analyse des geburtshilflichen Nutzungskontexts wurden drei Fokusgruppeninterviews (n = 17) mit Hebammen und Frauenärzt:innen, Schwangeren und Frauen mit Abweisungserfahrungen sowie drei Einzelinterviews (n = 3) mit Expert:innen aus dem Rettungsdienst, der Neonatologie und der Krankenhausverwaltung durchgeführt. Die Interviews wurden semi-strukturiert durchgeführt, transkribiert und in Anlehnung an die thematische Analyse nach Braun und Clarke mit MAXQDA ausgewertet. Auf Basis der Ergebnisse wurden Anforderungen für die verschiedenen Nutzer:innengruppen abgeleitet, gewichtet und darauf basierend ein Konzept für einen low-fidelity Prototyp entwickelt. Der Paper Prototyp wurde formativ mit Nutzer:innen (n = 2) und einem Experten (n = 1) evaluiert und das Feedback in die Entwicklung von einem high-fidelity Prototyp mit Adobe XD integriert. Der klickbare high-fidelity Prototyp wurde abschließend summativ mit Hebammen und Frauenärzt:innen (n = 25) auf die Gebrauchstauglichkeit mit dem System Usability Scale (SUS) untersucht.
Ergebnisse: Mit der Analyse des Nutzungskontexts konnten die Bedürfnisse und Anforderungen der potentiellen Nutzer:innen an ein digitales Kapazitätsnachweissystem identifiziert und spezifiziert werden. Die identifizierten Anforderungen wurden priorisiert und bei der iterativen Konzeption vom klickbaren Prototyp maßgeblich berücksichtigt. Die Evaluation der Mensch-Technik-Schnittstelle mit Kreißsaalpersonal (n=25) ergab anhand des SUSs eine exzellente Gebrauchstauglichkeit von 92%.
Zusammenfassung: Die Auswertung der Interviews zeigt einen hohen Bedarf der Nutzer:innen an einem Instrument für ein effizientes und bedarfsorientiertes Abweisungsmanagement auf. Mit dem Prototyp konnte ein potentieller Lösungsansatz für die Entwicklung von einem digitalen Kapazitätsnachweissystem für die deutsche Geburtshilfe unter Einbeziehung der potentiellen Nutzer:innen aufgezeigt werden.
Implizite Aspekte der interprofessionellen Geburtsbegleitung aus ärztlicher Perspektive
M. Koch (Düren, DE)
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Autor*in:
M. Koch (Düren, DE)
Hintergrund: Die Geburt erfordert als komplexes Ereignis im vorherrschenden Modell des ärztlich geleiteten Kreißsaales eine anspruchsvolle Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Hebammen im Rahmen der interprofessionellen Geburtsbegleitung. Diese ist von konfliktbehafteten Dynamiken geprägt, die zu unerwünschten geburtshilflichen Ereignissen sowie einer Minderung der Arbeitszufriedenheit führen können. Hierzu wurde bislang nur die Sichtweise der Hebammen erforscht. Maßnahmen zur Optimierung der Zusammenarbeit scheinen bisher nicht die gewünschte Wirkung zu erzielen [1,2,3,4].
Das Ziel der Studie ist die Explikation der impliziten Aspekte und Handlungsdynamiken der ärztlichen Geburtsbegleitung im deutschsprachigen Raum. Dieser Schritt wird als Voraussetzung gesehen, um die ärztliche Perspektive der interprofessionellen Zusammenarbeit, sowie auch die Dynamiken der interprofessionellen Geburtsbegleitung als solche, besser verstehen und somit zielgerichteter optimieren zu können. Die Studie möchte durch das Reflektieren der Beweggründe der komplementären Profession, zu einem gegenseitigen Verständnis und Einlassen beitragen.
Methode: Es wurden ein Online-Survey mit quantitativen und qualitativen Elementen sowie zwei leitfadengestützte Online-Fokusgruppen mit jeweils fünf Ärzt*innen der Gynäkologie und Geburtshilfe mit einem qualitativen Ansatz durchgeführt. Die Daten der 14 Survey-Teilnehmer*innen wurden deskriptiv ausgewertet und die beiden Fokusgruppen, nach der anonymisierten Transkription, mit der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet.
Ergebnisse: Im Survey wurde die interprofessionelle Zusammenarbeit als positiv bewertet und in den Fokusgruppen zeigte sich ein psychosoziales Spannungsfeld der interprofessionellen Geburtsbegleitung. Transprofessionelle Tendenzen in der gemeinsamen Geburtsbegleitung wurden als Auslöser für eine häufig auftretende Verantwortungsdiffusion sowie für Interrollenkonflikten identifiziert. Auch die in den unterschiedlichen Ausbildungen bereits geformten berufsspezifischen Zugänge zur Geburt sowie die Intra- und Interobserver-Variabilität werden als wichtige implizite Aspekte gesehen. Die Ärzt*innen schätzten ihre eigene Geburtsbegleitung als abwartend ein und sie nannten als beeinflussende Faktoren ihres Handelns generelle sowie situative Rahmenbedingungen, verschiedene Rollenaspekte und die unterschiedlichen Interaktionsebenen der Geburtsbegleitung. Die Ärzt*innen formulierten Wünsche bezüglich der Gestaltung der Zusammenarbeit und diskutierten über einen möglichen Austausch berufsspezifischer Aufgaben der beiden Professionen. Zusammenfassung: Die Studie verdeutlicht, dass interprofessionelle Ausbildungen sowie Fortbildungen essentiell sind und die Maßnahmen zur Optimierung der Zusammenarbeit spezifischer auf die Stärkung des Vertrauens zwischen den Professionen ausgelegt werden sollten. Es bleibt offen, ob dies zu einer Verbesserung ihrer Interaktion beitragen kann und es wird eine Reevaluation der Zusammenarbeit in Betracht gezogen. Hierzu bedarf es umfassender Forschung, um die Gestaltung und Intensität der Zusammenarbeit bei der Geburtsbegleitung an den Bedarf beider Professionen zu adaptieren.
Inhaltlicher und familiärer Unterstützungsbedarf der Mütter von Frühgeborenen hinsichtlich des Stillens und der Muttermilchernährung
L. Heymel (Gießen , DE)
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Autor*innen:
L. Heymel (Gießen , DE)
J. Godemann (Gießen, DE)
K. Reiss (Bonn, DE)
Hintergrund: Weltweit ist jedes zehnte Kind ein Frühgeborenes und die Frühgeburtenraten steigen. Frühes und ausschließliches Stillen kann die Frühgeborenensterblichkeit reduzieren. Allerdings sind die Stillraten von Frühgeborenen laut der KiGGS-Studie im Vergleich zu reifgeborenen Säuglingen signifikant geringer (68,7 % vs. 83,5 %). Gemäß dem internationalen Forschungsvorhaben „Becoming Breastfeeding Friendly“ (2017 – 2019) ist Deutschland zudem lediglich moderat stillfreundlich.
Methoden: Mittels qualitativer Interviews mit ExpertInnen, Erstmüttern und einem Erstvater wurde erforscht, welchen inhaltlichen und familiären Unterstützungsbedarf die Mütter von Frühgeborenen hinsichtlich des Stillens und der Muttermilchernährung haben. Die Daten wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Abschließend wurde eine Konzeptmodellkarte zum Stillverhalten von Frühgeborenen-Müttern angelehnt an Schluter et al. (2020) entwickelt.
Ergebnisse: Mütter von Frühgeborenen befinden sich unvorbereitet in einer vulnerablen Situation der Frühgeburtlichkeit, woraus ein hoher inhaltlicher und familiärer Unterstützungsbedarf resultiert. Die Informationsflut aufgrund der Komplexität der Frühgeborenenernährung, uneinheitliche Informationen und eine verringerte situationsbedingte Aufnahmefähigkeit der Mütter verursachen Überforderung.
Diskussion: Während die Stillintention bei dem Großteil der befragten Mütter bereits vor und während der Schwangerschaft gebildet wurde, bedurfte diese Entscheidung jedoch bei der Konfrontation mit der Frühgeburt häufig einer Überprüfung sowie weiteren Informationen. Die primäre Informationsquelle im klinischen Umfeld war für die befragten Mütter das Gesundheitspersonal. Folglich besteht eine Abhängigkeit des Informationszugangs und -verständnisses der Mütter von der Beratungssituation sowie dem beratenden Gesundheitspersonal. Die befragten ExpertInnen betonten zudem die Bedeutung einer einheitlichen Stillkommunikation, insbesondere aufgrund des längeren Krankenhausaufenthaltes bei einer Frühgeburt und den damit einhergehenden Begegnungen der Mütter mit verschiedenen Haltungen und Informationen während des Behandlungsweges.
Handlungsempfehlungen: Demnach bietet ein Komplex aus kontinuierlicher Beratung und Begleitung mit der Integration der Familie eine optimale Unterstützung. Um das Stillverhalten in der Klinik zu fördern und zu Hause aufrechtzuerhalten, sind eine situationsabhängige Vermittlung individueller Informationen über vielfältige Formate sowie eine lückenlose Versorgungsstruktur unerlässlich. Bildungsmöglichkeiten in Schulen zum Thema Stillen, sowie Fortbildungen für das Gesundheitspersonal sind Möglichkeiten, in der spezifischen Situation der Frühgeburtlichkeit dem inhaltlichen Informationsbedarf der Mütter gerecht zu werden. Durch eine vermehrte Integration der Familie und PartnerInnen in den Stillprozess könnte das familiäre Unterstützungspotenzial gesteigert werden.