Bei Ausschreibungen für Forschungsprojekte wird in den letzten Jahren immer häufiger verlangt, die Menschen, die vom jeweiligen Forschungsthema persönlich betroffen sind, in die Planung und Durchführung des Projekts einzubeziehen. Diese Entwicklung folgt einer alten Forderung der internationalen Behindertenrechtsbewegung – „Nothing about us without us“. Zugleich werden bei der Erstellung von Leitlinien im medizinischen Bereich zunehmend Patienten- und Angehörigenorganisationen beteiligt. Neben den menschenrechtlichen Aspekten (der gleichberechtigte Einbezug Betroffener ist eine zentrale Forderung in der UN-Behindertenrechtskonvention) spielt hier die Erkenntnis eine Rolle, dass die Erfahrungsexpertise Betroffener häufig zu praxisnahen, pragmatischen Ergebnissen führt und die Effektivität von Interventionen tendenziell verbessert. Unser Symposium stellt unterschiedliche innovative Ansätze der partizipativen und kollaborativen Forschung sowie der Patienten- und Angehörigenbeteiligung vor. Der erste Vortrag diskutiert, wie gut die Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertretenden bei der Leitlinienentwicklung in der Psychiatrie gelingt. Der zweite Vortrag stellt ein trialogisches Gremium aus Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten an einer Universitätsklinik vor, das seit Jahren erfolgreich Forschungsprojekte in unterschiedlichen Stadien (von der Antragsvorbereitung bis zur Auswertung und Publikation) berät. Im dritten Vortrag wird ein Modellprojekt vorgestellt, bei dem Erfahrungsexperten und -expertinnen selbständig Studien erstellten; der Schwerpunkt liegt auf dem eigenen Projekt der Referentin. Im abschließenden Vortrag reflektieren Mitarbeitende eines kollaborativen Forschungsprojektes zur Implementierung von Peer-Begleitung von zwei unterschiedlichen Standorten ihren gemeinsamen Arbeitsprozess.
13:30 Uhr
Leitlinienentwicklung in der Psychiatrie: wie gut gelingt die Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertretern?
U. Gühne (Leipzig, DE)
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Autor:innen:
U. Gühne (Leipzig, DE)
K. Schladitz (DE)
E. Weitzel (DE)
B. Soltmann (DE)
F. Jessen (DE)
A. Pfennig (DE)
S. Riedel-Heller (DE)
Im psychiatrischen Feld existieren mittlerweile zahlreiche Behandlungsleitlinien. Deren Entwicklung ist aufwendig und folgt einem elaborierten Regelwerk. An der Erstellung und Weiterentwicklung sind i.a.R. umfangreiche Gremien einschließlich Vertreter:innen von Betroffenen- und Angehörigenverbänden beteiligt. Für die Weiterentwicklung der Leitlinienarbeit ist eine Bestandsaufnahme der aktuellen Leitlinienarbeit aus Sicht der Beteiligten unumgänglich. Im Rahmen der Studie Guide2Guide wurde u.a. das Gelingen der Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertreter:innen untersucht. Zwischen Januar und Mai 2022 wurden 208 von 561 kontaktierten Leitlinienentwickler:innen von S3-Leitlinien im psychiatrischen Feld hierzu befragt (Rücklaufquote: 37,1 %). Die Einbindung der Betroffenen gelänge häufiger gut als die der Angehörigen (61,3 % vs. 54,6 %, p < ,001). 67,5 % stimmten zu, dass deren Einbindung zentral für eine erfolgreiche Entwicklung von Leitlinien ist. 50,5 % sahen häufige Diskrepanzen zwischen Evidenz und Betroffenen- und Angehörigenperspektive, deren Überwindung zu 48.6 % nicht gelänge. Benannt wurden zudem eine mangelnde Wertschätzung der Erfahrungsexpertise (32,7 % vs. 36,1 %), eine ungenügende Repräsentanz (36,5 %) und unzureichende Gleichberechtigung in der Konsensfindung (46,2 %). 44,7 % sahen Barrieren der Mitwirkung nicht wirksam abgebaut. Die Ergebnisse verweisen auf verschiedene Potenziale in der Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertreter:innen in die Leitlinienentwicklung; dafür müssen die Möglichkeiten und Bedingungen erweitert und verbessert werden.
14:00 Uhr
Diagnose als Identität?! Selbstvertretung zwischen Empowerment und Stigma – nutzerkontrollierte Forschungsprojekte am UKE Hamburg
I. Heuer (Hamburg, DE)
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Autor:in:
I. Heuer (Hamburg, DE)
Bei Ausschreibungen für Forschungsprojekte in Deutschland werden zunehmend partizipative Elemente verlangt. Gleichzeitig ist die Finanzierung nutzer:innenkontrollierter Projekte, die von Menschen durchgeführt werden, die von der jeweiligen Thematik persönlich betroffen sind, noch immer selten. Eine Ausnahme ist die Initiative EmPeerRie (Empower Peers to Research) am UKE in Hamburg. In diesem Rahmen wurden 10 eigenständige Forschungsprojekte von Menschen mit eigener Erfahrung psychischer Krisen gefördert.
Der Vortrag wird EmPeeRie und die Bandbreite der Projekte kurz vorstellen und dann den Fokus auf die eigene Studie der Referentin zum Thema Autismusdiagnose und Identität legen. Eine Autismusdiagnose im Erwachsenenalter ist eine Herausforderung. Oft zieht sie eine gründliche Aufarbeitung des eigenen bisherigen Lebens nach sich. Vieles muss neu bewertet und verortet werden. Das Projekt untersucht, wie spätdiagnostizierte autistische Menschen über ihre Diagnose sprechen, welche Rolle sie für ihr Selbstbild spielt, und wie und unter welchen Umständen eine Autismusdiagnose identitätsrelevant wird. Zusätzlich thematisiert es, inwieweit Aktivität in der Selbsthilfe bzw. Selbstvertretung hier einen Einfluss hat. Die Referentin wird diskutieren, in welcher Weise eine eigene, nicht pathologisierende Sicht auf eine Autismusdiagnose empowernd, entstigmatisierend und emanzipatorisch sein kann. Außerdem wird sie ihren eigenen Forschungsprozess reflektieren, der sie dazu führte, selbst partizipative Elemente unter Einbeziehung der autistische Community einzubinden. Der Vortrag schließt mit einer kurzen Diskussion der Potenziale und Herausforderungen nutzer:innenkontrollierter partizipativer Forschung.
14:30 Uhr
ImpPeer Psych-5 – Reflexion eines kollaborativen Forschungsteams an zwei Standorten zum gemeinsamen Arbeitsprozess
L. Nugent (Hamburg, DE)
I. Heuer (Hamburg, DE)
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Autor:innen:
L. Nugent (Hamburg, DE)
I. Heuer (Hamburg, DE)
C. Mahlke (Hamburg, DE)
S. von Peter (Rüdersdorf bei Berlin, DE)
G. Fehler (Rüdersdorf bei Berlin, DE)
U. Krämer (Neuruppin, DE)
D. Schmidt (Rüdersdorf bei Berlin, DE)
G. Perez (Neuruppin, DE)
J. Ziegenhagen (Berlin, DE)
Kooperationen gelingen nicht von allein, zusammen arbeiten und gemeinsam Ziele zu erreichen, ist ein Prozess, der immer wieder Gespräche, Vereinbarungen und Abstimmungen erfordert. Unser Projekt „ImpPeer Psy-5“ hatte zudem die Herausforderung des kollaborativen Arbeitens. Inhomogene Voraussetzungen der Arbeitsgruppen in Hinblick auf individuelle Ausbildungen und Perspektiven waren demnach vorhersehbar und von der Leitung gewünscht.
In unserem Beitrag reflektieren wir, inwiefern unsere Zusammenarbeit und unser „Zusammenraufen“ tatsächlich vom Faktor „Kollaboration“, dem Zusammenarbeiten von Erfahrenen und Profis, beeinflusst wurde. Gab es aus unserer Sicht dadurch besondere Herausforderungen? Oder lassen sich Konflikte und Probleme, die es auf dem Weg zu bewältigen galt, aus ganz anderen Ursachen erklären, die nichts damit zu tun haben, dass einige der Arbeitsgruppen Psychiatrieerfahrung haben? Ist kollaboratives Arbeiten eher ein Oszillationspunkt, in dem strukturelle Probleme nur anders und schmerzhafter sichtbar werden?