Die sogenannten „Drogengroßhändler“ haben in den Maßregelvollzügen nach § 64 StGB in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was insgesamt zu einer langsam veränderten Klientel in den forensischen Entziehungsanstalten führte. In den Daten der Stichtagserhebung 2022 zeigte sich, dass Untergebrachte mit einem BtM-Delikt mittlerweile ein Drittel der Patientenpopulation in den Entziehungsanstalten ausmachen (im Vergleich: Im Jahr 1995 waren es noch etwa 10%). Mehr als jeder zehnte Patient wurde aufgrund eines Anlassdelikts nach BtMG mit einer Parallelstrafe ab 5 Jahren untergebracht. Es zeigt sich, dass diese Klientel in vielen der untersuchten Faktoren (u. a. Bildung, Sozialisation, zwischenmenschliche Fertigkeiten, Krankheitsfaktoren) günstigere Werte aufweisen als die restlichen Patienten in den Entziehungsanstalten. Zudem erreichen sie das Behandlungsziel einer Bewährungsentlassung signifikant häufiger, vor allem im Vergleich zu den Patienten mit Beschaffungskriminalität. Es verwundert nicht, dass gut strukturierte, funktional und sozial besser gestellte Patienten das Behandlungsziel einer Entziehungsanstalt eher erreichen als schwer Suchtkranke mit geringeren sozialen Ressourcen. Suchtmittelkonsum und Kriminalität sind in der Realität zwei Phänomene, die häufig zusammen auftreten, aber nicht immer kausal zusammenhängen. So stellt Drogenkonsum für eine Vielzahl von Kriminellen einen lebensbegleitenden und keinen lebensbestimmenden Faktor dar. Auf Basis der Daten der Stichtagserhebung soll die Frage diskutiert werden, ob viele der sogenannten „Drogengroßhändler“ in den Entziehungsanstalten wirklich gefährlich sind, weil sie Suchtmittel konsumieren oder Suchtmittel konsumieren und gefährlich sind.
15:30 Uhr
Stichtagserhebung: die Daten über die Drogengroßhändler im Vergleich mit anderen Patienten
D. Berthold (Bad Rehburg, DE)
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D. Berthold (Bad Rehburg, DE)
Die sogenannten „Drogengroßhändler“ haben in den Maßregelvollzügen nach § 64 StGB in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was insgesamt zu einer langsam veränderten Klientel in den forensischen Entziehungsanstalten führte. In den Daten der Stichtagserhebung 2022 zeigte sich, dass Untergebrachte mit einem BtM-Delikt mittlerweile ein Drittel der Patientenpopulation in den Entziehungsanstalten ausmachen (im Vergleich: Im Jahr 1995 waren es noch etwa 10 %). Mehr als jeder zehnte Patient wurde aufgrund eines Anlassdelikts nach BtMG mit einer Parallelstrafe ab 5 Jahren untergebracht. Es zeigt sich, dass diese Klientel in vielen der untersuchten Faktoren (u. a. Bildung, Sozialisation, zwischenmenschliche Fertigkeiten, Krankheitsfaktoren) günstigere Werte aufweisen als die restlichen Patienten in den Entziehungsanstalten. Zudem erreichen sie das Behandlungsziel einer Bewährungsentlassung signifikant häufiger, vor allem im Vergleich zu den Patienten mit Beschaffungskriminalität. Es verwundert nicht, dass gut strukturierte, funktional und sozial besser gestellte Patienten das Behandlungsziel einer Entziehungsanstalt eher erreichen als schwer Suchtkranke mit geringeren sozialen Ressourcen. Suchtmittelkonsum und Kriminalität sind in der Realität zwei Phänomene, die häufig zusammen auftreten, aber nicht immer kausal zusammenhängen. So stellt Drogenkonsum für eine Vielzahl von Kriminellen einen lebensbegleitenden und keinen lebensbestimmenden Faktor dar. Auf Basis der Daten der Stichtagserhebung soll die Frage diskutiert werden, ob viele der sogenannten „Drogengroßhändler“ in den Entziehungsanstalten wirklich gefährlich sind, weil sie Suchtmittel konsumieren oder Suchtmittel konsumieren und gefährlich sind.
16:14 Uhr
Therapie von hochstrukturierten Suchtpatienten
J. Querengässer (Köln, DE)
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J. Querengässer (Köln, DE)
Hochstrukturierte Suchtpatienten, also jene die zwar konsumieren und Straftaten begehen, die sich aber nicht so recht „in den Fängen der Sucht“ befinden und deren „Gefährlichkeit“ eher locker mit dem Substanzkonsum assoziiert zu sein scheint, stellen eine ganz eigene Herausforderung für Behandelnde in Entziehungsanstalten dar. Denn der juristische Behandlungsauftrag, die untergebrachte Person vom Hang zum Suchtmittelkonsum im Übermaß „zu heilen“ und sie dadurch für die Gesellschaft weniger gefährlich werden zu lassen, scheint nicht wirklich zu greifen, wenn der Patient gar nicht so richtig krank ist und Substanzkonsum allenfalls am Rande eine Rolle für seine Gefährlichkeit spielt.
In Anbetracht der bundesweiten Überbelegung der Entziehungsanstalten wäre es verständlich, diese Patienten abzulehnen und als Fehleinweisungen abzutun. Indes, damit wäre eine Chance vergeben. Stattdessen kann die hohe Strukturiertheit auch als Ressource betrachtet werden, die andere therapeutische Ansatzpunkt erlaubt. Gerade wenn „die Sucht“ nur zu einem geringen Teil das Verhalten prädeterminiert und Delikte nicht (nur) substanzbedingt begangen werden, ergeben sich neben Suchttherapie und klassischer Deliktarbeit zusätzliche Spielräume, die vielfältig zu nutzen sind. So kann gerade mit hochstrukturierten Patienten etwa gut am Thema Selbstverständnis gearbeitet werden. Angelehnt an die philosophische Strömung des Existenzialismus kann gemeinsam der Frage nachgegangen werden, ob die Entscheidung zu Substanzkonsum und Delinquenz im Einklang zu dem steht, was der Patient unter einem guten und gelingenden Leben versteht. Es gilt, erstens innere Ambivalenzen zu bemerken und zu spüren, zweitens die eigene Wahlfreiheit und deren Grenzen zu erkennen und drittens bewusste Entscheidungen für sein eigenes Leben zu treffen und zu verantworten.
Kriminalität ist keine Krankheit, aber Psychotherapie kann helfen, sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit eines kriminellen Lebens auseinander zu setzen.
16:36 Uhr
Kann man Kriminalität heilen?
K. Hoffmann (Reichenau, DE)
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K. Hoffmann (Reichenau, DE)
Auch nach der Novellierung des § 64 StGB bleibt der kategoriale Widerspruch bestehen, dass das Gericht im erkennenden Verfahren auch bei schuldfähigen Täterinnen oder Tätern eine Aussage zur Behandlungsprognose treffen muss. Eine Psychotherapieindikation setzt generell und auch bei Suchtkranken eine Motivationsanalyse voraus, die im Ablauf eines erkennenden Verfahrens sehr stark von prozesstaktischen Erwägungen und möglichst geringen Sanktionen gekennzeichnet ist. Intensive stationäre Psycho- und Milieutherapien sollten von den Betroffenen im Verlaufe des Justizvollzuges beantragt und in hoheitlichen Kliniken durchgeführt werden, wie unter anderem von der Taskforce § 64 StGB der DGPPN gefordert. Dies wird der Suchtdynamik und der psychischen Situation schuldfähiger Suchtkranker gerecht. Kriminalität, auch verbunden mit Sucht, ist ein komplexes Konstrukt, und der jetzige Gesetzestext suggeriert, dass mit der Heilung der Sucht auch die Kriminalität geheilt werden könne, obgleich den Begutachtenden wichtige Erkenntnisse oft gar nicht zur Verfügung stehen. Dies stellt eine strukturelle Entmündigung der Betroffenen dar und ist ein deutscher Sonderweg, der zum einen mit obrigkeitsstaatlichen Traditionen erklärbar scheint, sicherlich auch damit, dass die Behandlungen nach § 64 StGB über viele Jahre durchaus klinisch und kriminologisch erfolgreich schienen, bis aufgrund neuer obergerichtlicher Rechtsprechungen der Hangbegriff völlig ausgeweitet und seines diagnostisch psychiatrischen Inhalts immer mehr entleert wurde, was zu massiven Über- und Fehlbelegungen führte. Vielleicht gelingt es mit der aktuellen Reform der Halbstrafenregel, die gröbsten Ausmaße einzugrenzen. Der geschilderte strukturelle Widerspruch, eine Indikation für eine aufwändige Behandlung unter der Voraussetzung, dass wichtige Fakten aus prozesstaktischen Gründen verschwiegen werden, zu formulieren, bleibt allerdings bestehen.