17:15 Uhr
Eine Ökologie des Gehirns – für Psychiatrie und Neurologie
S. Frisch (Klingenmünster, DE)
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Autor:in:
S. Frisch (Klingenmünster, DE)
Einleitung: In der Auseinandersetzung um die Biologisierung der Psychiatrie wird von seiten der Kritiker häufig für eine klare inhaltliche Abgrenzung des Faches gegenüber der Neurologie argumentiert. Hierbei wird dann eine personzentrierte, ökologische Psychiatrie einer mechanistischen, hirnzentierten Neurologie gegenübergestellt. Trotz der zu unterstützenden Grundintention ist diese Abgrenzung weder klinisch adäquat noch hilfreich für eine Kritik der Biologischen Psychiatrie. Eine ökologisch-systemische Sicht des Gehirns (Fuchs, 2005) erscheint für beide Disziplinen, Psychiatrie wie Neurologie, notwendig und nützlich.
Methode: Die mechanistische Auffassung neurologischer Erkrankungen wird hinterfragt. Dazu wird insbesondere auf Kurt Goldsteins Ansatz einer organismisch orientierten Neurologie zurückgegriffen, ferner auf damit verbundene Aspekte einer phänomenologisch orientierten Psychopathologie, wie Selbstverhältnis, Leiblichkeit, Zeitlichkeit und Intersubjektivität.
Ergebnisse: Auch Auswirkungen von Hirnschädigungen lassen sich letztlich nur im Kontext der Person in ihrer individuellen Lebenswelt adäquat verstehen und behandeln. Dabei zeigen sich relevante Gemeinsamkeiten mit phänomenologisch orientierten Ansätzen in der Psychiatrie, auch in einer gewissen Abgrenzung zu anderen somatischen Disziplinen der Medizin.
Diskussion: Trotz noch zu spezifizierender Unterschiede zwischen Psychiatrie und Neurologie basieren beide Disziplinen auf einer ökologisch-systemischen Auffassung des Gehirns und seiner Funktionen. Der konzeptuell interessante Bruch liegt nicht zwischen diesen beiden klinischen Disziplinen, sondern in deren gemeinsamer Abgrenzung von den experimentellen Neurowissenschaften. Deren mechanistische Grundorientierung kann wesentliche Aspekte des lebendigen Organismus, wie Entwicklungsfähigkeit, Identitätsstreben, Lebenswelt oder Selbstverhältnis nicht adäquat erfassen. Hieraus ergibt sich auch eine wirksame Kritik an der Biologischen Psychiatrie.
17:27 Uhr
Theoretische, ethische und soziale Implikationen computationaler Psychiatrie für neuropsychiatrische Forschung und klinische Praxis
E. Buhr (Oldenburg, DE)
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Autor:innen:
E. Buhr (Oldenburg, DE)
S. Teipel (DE)
O. Gruber (DE)
O. Klein (DE)
N. Wendelstorf (DE)
M. Schweda (DE)
Einführung
KI-basierte Ansätze finden zunehmend Einsatz in der Neuropsychiatrie. Sie sollen eine präzisere Prädiktion, Früherkennung und Diagnose sowie eine gezieltere Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen ermöglichen. Allerdings ist die Grundlage der mit diesen Verfahren erzielten Ergebnisse oft nicht mehr nachvollziehbar. Diese Undurchschaubarkeit wirft grundlegende theoretische, ethische und soziale Fragen auf: Wie verändern KI-basierte Expertensysteme unser Verständnis der Psychiatrie und neuropsychiatrischer Erkrankungen? Welche Auswirkungen haben sie auf die Rolle der Behandelnden, das Selbstverständnis von Patientinnen und Patienten und die Beziehung zwischen beiden?
Methode
Wir kombinieren ethische Reflexion mit Methoden qualitativer Sozialforschung in Form einer systematischen Literaturrecherche sowie Experteninterviews (n=15) und Fokusgruppendiskussionen (n=20). Der Fokus liegt dabei auf zwei prominenten Anwendungsfeldern von KI-basierten Ansätzen: Alzheimer-Krankheit und depressive Störungen.
Ergebnisse/Diskussion
Auf Grundlage unserer Studie präsentieren wir eine heuristische Matrix, die sowohl eine systematische Bestandsaufnahme praktisch zentraler Fragen, Probleme und Kategorien als auch einen theoretischen Rahmen ethischer und wissenschaftstheoretischer Themen, Positionen und Argumente im Zusammenhang mit KI-basierten Ansätzen in der Psychiatrie bietet.
Schlussfolgerung
Der Einsatz von KI in Neuropsychiatrie hat das Potenzial, das Selbstverständnis der Disziplin und die hergebrachte Kategorisierung neuropsychiatrischer Erkrankungen tiefgreifend zu verändern. Davon betroffen ist auch das Selbstbild von Forschenden, klinisch arbeitenden Personen und Patientinnen und Patienten auf diesem Gebiet. Eine theoretische Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen und eine empirische Befragung relevanter Stakeholder kann Herausforderungen antizipieren und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.
17:39 Uhr
Werden die medizinethischen Kriterien für die Anwendung von Zwang in der psychiatrischen Versorgung erfüllt? Eine ethisch-empirische Analyse
D. Richter (Bern, CH)
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Autor:in:
D. Richter (Bern, CH)
Hintergrund: Psychiatrische Massnahmen gegen den Willen einer Person werden üblicherweise durch die Kombination einer psychischen Störung sowie dem Risiko oder einer Gefahr für die eigene Person oder anderer Personen legitimiert. Weitere ethische Kriterien sind die geringstmögliche Einschränkung, der Einsatz von Zwang als letztem Mittel, die Wirksamkeit der gesamten Massnahme, das zu erzielende Wohl der Person und die Wiederherstellung der Entscheidungs-Autonomie.
Fragestellung: Welche Forschungsresultate liegen hinsichtlich der Umsetzung der im Hintergrund genannten ethischen Kriterien vor?
Methode und Material: Für jedes der im Hintergrund genannten ethischen Kriterien wird die jeweils am besten vorhandene Evidenz recherchiert und dargestellt.
Ergebnisse:. Eine valide Definition der ‘psychischen Störung’ ist gemäss der taxonomischen Forschung aktuell nicht verfügbar. Die Wirksamkeit psychiatrischer Interventionen wird derzeit über alles als nicht einmal moderat eingestuft. Viele der zur Verfügung stehenden weniger einschränkenden Mittel wie Vorausverfügungen oder offene Türen auf Akutstationen sind nicht flächendeckend implementiert. Die meisten der von Zwangsmassnahmen betroffenen Personen erleben nicht, dass diese zu ihrem Wohl erfolgten. Die Existenz des für die Wiederherstellung der Autonomie notwendigen freien Willens ist in der Forschung hochumstritten.
Diskussion: Die ethischen Kriterien für die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie werden nicht erfüllt.
Schlussfolgerungen: Für die weitere Legitimation von psychiatrischem Zwang bräuchte es entweder neue Forschungsresultate, die im Einklang mit den genannten Kriterien stehen, oder aber eine neue Argumentation auf der Basis der empirischen Befunde.