Raum:
Saal New York 1
Topic:
Wissenschaftliches Programm
Topic 26: Ethik, Philosophie und Spiritualität
Format:
Sitzung Freier Vorträge
Dauer:
90 Minuten
Besonderheiten:
Q&A-Funktion
08:30 Uhr
Vom Trauma zum bedeutungsvollen Ersterlebnis – über die Entstehungsbedingungen von Person und Personalität aus Sicht der medizinischen und der philosophischen Anthropologie
C. Schmidt (Dassow, DE)
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Autor:in:
C. Schmidt (Dassow, DE)
Der heute gängige Begriff des psychischen Traumas ist in vielerlei Hinsicht problematisch und trägt seinerseits zur einseitig-fixierenden Bestimmung der Erlebnismöglichkeiten der Person bei. Erwin Straus und Victor Emil von Gebsattel entwickelten als Mitbegründer der anthropologischen Richtung innerhalb der Psychiatrie und Psychologie des 20. Jahrhunderts jeweils ein personalistisches Trauma- und Neurosenverständnis, welches die psychopathologischen Erscheinungen als Abwandlungen des gelingenden personalen Werdens versteht. Damit kommt bei beiden Autoren ein größeres Spektrum von Erlebnismomenten in den Blick, die als bedeutungsvolle Ersterlebnisse (Straus, 1930) oder numinose Ersterlebnisse (Gebsattel, 1957) bezeichnet werden.
Arbeitsthesen: (1) Die synthetische Integration eines psychischen Traumas kann durch primäre Fokussierung auf die bedeutungsvollen Ersterlebnismomente vitaler Kongruenz erreicht werden. (2) Das Auftreten dieser Erlebnismomente steht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Entstehung von Person und Personalität.
Der zugrundeliegende Person-Begriff stellt einen Syntheseversuch der vier Person-Konzepte von Erwin Straus, Victor Emil von Gebsattel, Helmuth Plessner und Max Scheler dar, die in einem eigenständigen Diskurssystem in Hinblick auf den Begriff der Person gegenübergestellt werden. Abschließend wird dieser auf die eingangs erörterte Trauma-Problematik angewendet und mit Konzepten der trauma-fokussierten VT verglichen.
Die grundlegendere Sicht auf personales Wachstum gewährleistet den personalen „Sinn für das Negative“ (Plessner), um die Person vor einseitig positiven bzw. fixierenden Bestimmungen zu schützen, sowie die Perspektive auf den personalen Möglichkeitshorizont zu eröffnen und das Trauma so zu 'überwachsen'. Damit verbunden geht es insbesondere um die Aspekte der Wertsichtigkeit und Wertrealisation in Hinblick auf die Stellungnahme der Person zur Soziokultur (verstanden als die Mitwelt und die Sphäre des objektiven Geistes).
08:42 Uhr
Philosophie der ökologischen Psychiatrie: Versuch einer Verortung zwischen Anthropologie, Wissenschaftstheorie und (angewandter) Ethik
K. Peters (Erlangen, DE)
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Autor:in:
K. Peters (Erlangen, DE)
Die Betrachtung der Psychiatrie im Wechselspiel mit Umgang und Gesellschaft zieht nicht nur natur- und sozialwissenschaftliche Forschung nach sich, sondern wirft gleichermaßen eine Vielzahl philosophischer Fragen auf.
Ziel dieses Beitrags soll es daher sein, mittels philosophisch-konzeptueller Analyse in einem ersten Schritt aufzuzeigen, wie gerade ethische und philosophisch-anthropologische sowie medizintheoretische Fragestellungen im Kontext der ökologischen Psychiatrie miteinander verschränkt sind.
Hierzu soll zunächst eine Annäherung an die ökologische Psychiatrie aus einem ethischen Blickwinkel heraus erfolgen, in welchem dargelegt wird, welche speziellen Fragestellungen und Herausforderung sich aus der ökologischen Psychiatrie für Bereichsethiken wie die medizinische Ethik ergeben. Exemplarisch zu nennen sei hier das potenzielle Spannungsfeld, das aus der Erweiterung einer prominenterweise individuenzentrierten medizinischen Ethik auf gesamtgesellschaftliche sowie globale Fragestellungen wie der Gestaltung von Lebens(um)welten und deren gesundheitlichen Folgen entsteht.
Anschließend soll erläutert werden, dass ethische Fragestellungen im Kontext der ökologischen Psychiatrie gleichermaßen Fragen für die philosophisch-anthropologische Betrachtung der Psychiatrie hinsichtlich des Wechselspiels von Individuum und Umwelt bereithalten, sich also Konsequenzen aus der Ethik für die Anthropologie der Psychiatrie ergeben. Vice versa soll aber ebenso gezeigt werden, warum die philosophische Anthropologie der Psychiatrie unabdingbar für die Herangehensweise an die zuvor erarbeiteten medizinethischen Fragen ist, darum ein Wechselspiel zwischen diesen Teilgebieten besteht sowie zwischen Ethik und Medizintheorie der Psychiatrie.
Abschließend soll die Brücke zur Philosophie als Praxis geschlagen und aufgezeigt werden, wie eine Philosophie der Ökologischen Psychiatrie die Psychiatrie als klinisches Teilgebiet und wissenschaftliches Betätigungsfeld bereichern kann.
08:54 Uhr
Schizophrene Störungen aus der Perspektive philosophischer und neurowissenschaftlicher Bewusstseinstheorien
T. Kreter-Schönleber (Heidelberg, DE)
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Autor:innen:
T. Kreter-Schönleber (Heidelberg, DE)
T. Fuchs (Heidelberg, DE)
Forschungsansätze aus unterschiedlichen Bereichen haben zuletzt zu einem besseren Verständnis schizophrener Störungen beigetragen. So begreifen phänomenologische Modelle die Schizophrenie als eine Störung des basalen Selbsterlebens. Gemäß dieser Hypothese ist auf einer basalen Ebene des Selbsterlebens die Zugehörigkeit eigener Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken, kurz: die „Meinhaftigkeit“ des Gedanken- und Bewusstseinsstromes bedroht. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die anderen Symptome (verbale akustische Halluzinationen, Ich-Störungen etc.) verstehen. Anknüpfend an diese Modelle soll gezeigt werden, inwiefern auch eine Bewusstseinstheorie nach Fichte und Hegel zu einem besseren Verständnis der Schizophrenie beitragen kann. Gemäß diesen Theorien weist die menschliche Subjektivität eine dialektische Binnenstruktur auf – sozusagen als ihren default mode. Eine zentrale Konsequenz, die sich daraus ableitet, ist, dass es kein Ichbewusstsein ohne das Bewusstsein um die Gegenseite – das Nicht-Ich – geben kann; dass also in jedem Selbstbezug implizit ein Fremdbezug oder Außenverhältnis mitgesetzt ist. Vor dem Hintergrund dieser Annahme lassen sich insbesondere Störungen der Selbst-Umwelt-Demarkation, wie sie dem schizophrenen Beeinflussungs- und Beziehungserleben, aber auch den Ich-Störungen zugrunde liegen, sehr gut abbilden. Die im Rahmen einer solchen Subjekttheorie abgeleiteten Hypothesen können sodann in Relation zu neurowissenschaftlichen Modellen der Schizophrenie gesetzt werden. Exemplarisch wird dies für die Theorie des Predictive Coding gezeigt. Sie postuliert neuronale Netzwerkinteraktionen im Kontext komplexer bottom-up- und top-down-Prozesse, die in den unterschiedlichen Kausalitätsmustern des dialektischen Subjektmodells eine Korrespondenz finden. Zudem wird gezeigt, inwiefern sich das Konzept einer abnormen Salienzverarbeitung in der Frühphase von Psychosen und daran anknüpfend die Entstehung von Wahnerleben in dem Subjektmodell abbilden lassen
09:06 Uhr
Unbehagen und Beschleunigung in der Gesellschaft – konzeptionelle Ansätze von Alain Ehrenberg und Hartmut Rosa im Vergleich
O. Bilke-Hentsch (Luzern, CH)
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Autor:in:
O. Bilke-Hentsch (Luzern, CH)
Fragestellung:
Gesellschaftliche und digitale Beschleunigung einerseits und ein grundsätzliches ängstliches Unbehagen in der Gesellschaft andererseits stellen zwei Basiskonzepte dar, die soziologischen Hauptprotagonisten Alain Ehrenberg und Hartmut Rosa seit über 20 Jahren mit verschiedenen Ansätzen herausarbeiten. Beide Phänomene sind im klinischen Alltag nicht erst seit der Corona-Pandemie gehäuft zu finden und es stellt sich die Frage, ob und wenn wie diese Konzepte mit den klinischen Erfahrungen und therapeutischen Ansätzen von Psychiatrie und Psychotherapie korrespondieren.
Methodik:
Anhand der jeweils 3 bedeutendsten Hauptwerke der beiden Autoren werden die Grundkonzeptes des Unbehagens und der Depressivität in der Gesellschaft (Alain Ehrenberg) sowie von Beschleunigung und Resonanz sowie Verfügbarkeit (Hartmut Rosa) erarbeitet und einander gegenübergestellt. Unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Andreas Reckwitz sowie bekannte klinische Konzepte wird vor allem der Mechanismus der erlernten Hilflosigkeit und der pathologischen Trauer herausgearbeitet.
Ergebnis:
Sowohl das Konzept des Unbehagens in der Gesellschaft aufgrund deren zunehmenden Komplexität als auch das Konzept der Beschleunigung (nicht erst durch die Digitalisierung) sind nützlich um gesellschaftliche Rahmenbedingungen fassbar, benennbar und in die Therapie integrierbar zu machen, die das Individuum zwar diffus spürt, aber selten explizieren kann.
Diskussion:
Eine Integration soziologischer Theorien und Ergebnisse in die Weiter- und Fortbildung von Psychiatern und Psychotherapeuten dürfte für ein bio-psycho-sozio-ökonomischen Gesamtverständnis nützlich sein.